Aufarbeitung der Coronazeit: Spahn verteidigt sich
Veröffentlichte RKI-Dokumente bringen den Ex-Gesundheitsminister unter Rechtfertigungsdruck. Wie war das mit der „Pandemie der Ungeimpften“ gemeint?
Hintergrund ist die Veröffentlichung ungeschwärzter Dokumente über die Sitzungen des Corona-Krisenstabs beim Robert Koch-Institut (RKI). Eine Gruppe um eine Journalistin, die zu den Kritiker:innen der Corona-Politik der Bundesregierung zählt, hatte die Unterlagen online gestellt und am Dienstag in einer Pressekonferenz vorgestellt. Das RKI erklärte dazu, es habe die Datensätze „weder geprüft noch verifiziert“.
In einem Dokument, betitelt als Ergebnisprotokoll vom 5. November 2021, heißt es demnach von einem Vertreter eines RKI-Fachgebiets: „In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?“ Vonseiten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gebe es keine Entwarnung. Regeln zu Abstand, Hygiene, Lüften würden wieder stärker in den Fokus genommen. „Dient als Appell an alle, die nicht geimpft sind, sich impfen zu lassen.“ Dann äußert ein Vertreter eines anderen Fachgebiets: „Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.“
Ein Sprecher Spahns sagte der FAZ, der damalige Minister habe auf den Umstand verwiesen, dass 90 bis 95 Prozent der Covid-19-Patient:innen auf Intensivstationen nicht geimpft gewesen seien. „Die fachliche Einschätzung aus dem RKI, dass die Gesamtbevölkerung auch beiträgt, widerspricht dem nicht.“ Spahn schrieb beispielsweise am 7. September 2021 bei Twitter: „Bei Inzidenz und auf Intensivstationen sehen wir: Wir erleben eine anwachsende Pandemie der Ungeimpften. Alle, die können, sollten sich ihren Schutz holen!“
„Das war die entscheidende Botschaft: Wenn sich möglichst viele impfen lassen, geht es auch schneller in die Normalität zurück“, erläuterte Spahn am Donnerstagabend im ZDF. „Das mag auch moralischen Druck bedeutet haben für manche, die sich noch nicht haben impfen lassen, aber das lag natürlich auch in der Pandemiezeit damals begründet.“
Lauterbach: Überwiegend Ungeimpfte auf Intensivstationen
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) teilte dem Spiegel mit Blick auf seinen Vorgänger mit: „Spahn hat wohl gemeint, dass sich zwar auch Geimpfte infizieren könnten, das war ja bekannt und wurde auch von ihm nicht bestritten. Es waren allerdings überwiegend Ungeimpfte, die mit schweren Verläufen auf die Intensivstation mussten“. Viele der getroffenen Maßnahmen seien notwendig gewesen, um besonders Ungeimpfte und das Gesundheitswesen zu schützen.
Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen äußerte sich besorgt, dass mit der ungeschwärzten Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte insbesondere von Mitarbeiter:innen des RKI verletzt würden. Zudem werde mindestens in Kauf genommen, dass ihre Sicherheit dadurch erheblich gefährdet werde. „Es muss nun alles getan werden, dass diese Menschen, die im RKI eine außerordentliche Arbeit zur Bewältigung dieser nie dagewesenen Gesundheitskrise für dieses Land geleistet haben, den notwendigen Schutz erfahren, der nun erforderlich geworden ist.“
Das RKI will seine Protokolle nach Angaben Lauterbachs zu einem noch nicht genannten Zeitpunkt selbst veröffentlichen. Die Dokumente zeigen, worüber der Krisenstab bei seinen Sitzungen jeweils beriet: aktuelle Infektionszahlen, internationale Lage, Impfungen, Tests, Studien oder Eindämmungsmaßnahmen.
Das RKI hatte im Mai bereits die Protokolle für die Zeit von Januar 2020 bis April 2021 weitestgehend ohne Schwärzungen veröffentlicht. Auslöser war eine vorherige Veröffentlichung stärker geschwärzter Protokolle durch das obskure Online-Magazin Multipolar. Dass zahlreiche Passagen zu dem Zeitpunkt geschwärzt waren, löste eine Debatte über die Unabhängigkeit des RKI aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen