Neues Buch von Michel Foucault: Am Ende der Tradition

Ein Manuskript aus dem Nachlass des Philosophen: Michel Foucault über den „Diskurs der Philosophie“ und das Denken des Heute.

Portrait von Michel Foucault

Michel Foucault, der einflussreichste postmoderne Philosoph, ist 1984 gestorben Foto: Michele Bancilhon/afp

Im laufenden Kafka-Jahr wurde oft an Max Brods Weigerung erinnert, der Forderung seines Freundes nachzukommen und alle nachgelassenen Manuskripte zu verbrennen. Der Literaturgeschichte ist so ein Werk des zu Lebzeiten kaum bekannten Autors erhalten geblieben, dessen Verlust man sich kaum vorstellen will.

Als der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault im Juni 1984 an Aids starb, war er schon weltberühmt und sein veröffentlichtes Werk immens und in vielen Sprachen zugänglich. Die testamentarische Anweisung „Keine posthumen Veröffentlichungen“ hat Nachlassverwalter und Familie einige Jahrzehnte lang gebunden, aber dann haben die große Nachfrage einerseits und die Einschätzung des öffentlichen Interesses andererseits die Autorintention übertrumpft.

Inzwischen gehören die meisten Manuskripte, Notizen und Mitschriften den staatlichen französischen Archiven, waren der Forschung ohnehin schon zugänglich und finden nun in stetigem Strom in sorgfältig editierter Form ans Licht.

Im Jahr 1966

Mit „Der Diskurs der Philosophie“ gelangt ein fertiggestelltes, aber gleich aufgegebenes Manuskript an die Öffentlichkeit, an dem Foucault im Sommer und Herbst 1966 gearbeitet hatte, kurz nachdem „Die Ordnung der Dinge“ erschienen war.

Dieses Buch, das seinen Ruf als eines der originellsten Denker seiner Generation begründete und dem ein erstaunlicher Erfolg auch beim breiteren Publikum beschieden war, hatte mit seiner These vom „Ende des Menschen“ zu Polemiken und scharfen Auseinandersetzungen geführt, die unter anderem als frühe Vorboten der intellektuellen Debatte über die „Postmoderne“ ab Anfang der 1980er Jahre verstanden werden können.

Der Nachlasstext, stilistisch etwas spröder und schmuckloser als die veröffentlichten Schriften Foucaults dieser Zeit, bearbeitet ein im früheren Buch berührtes, aber ausgespartes Problem. Nun wird die dort skizzierte und methodisch eigenwillige Geschichte oder „Archäologie“ des Wissens, die er an einigen empirischen Wissenschaften illustriert hatte, auf die westliche neuzeitliche und moderne Philosophie als Disziplin und Tradition angewendet.

Man hätte sich eine griffige Antwort Foucaults auf die ewige Frage „Was ist Philosophie?“ wünschen können und eine Explikation seiner eigenen theoretischen Praxis gleich mit, aber so einfach macht er es uns und sich auch in diesem Text nicht. Philosophie, wie wir sie kennen, so die historische These, lässt sich überhaupt nur als diskursive Figuration begreifen, die ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in einer allgemeinen Umbruchszeit der Wissens- und Schreibformen entstanden ist und sich als eigenständige Reflexionsweise mit bestimmten Regeln und systematischen Optionen gebildet hat; im Werk von ­Descartes wird sie mustergültig entwickelt.

„Architektur der Möglichkeiten“

Die Philosophiegeschichte seither, so versucht Foucault in einem detailversessenen, auf unzählige Positionen anspielenden Narrativ zu zeigen, ist eine systematisch oder formal darstellbare endlose Kombination von Möglichkeiten, den Weg zum sicheren Wissen zu begründen und abzuleiten.

Eine ihr angemessene Geschichtsschreibung kommt ohne die Bemühung der Lebensgeschichten oder genialen Einfälle der Philosophen aus, sie beschreibt formal, gewissermaßen von außen, die „Architektur der Möglichkeiten“ des Denkens.

Diese Einheit gerät, so die zeitdiagnostische These, in eine Krise, die zum einen mit dem Namen Nietzsche verbunden ist und zum anderen mit den gegen Vernunft und Einheit skeptischen Tendenzen der Nachkriegszeit sowie wissenschaftlichen Entwicklungen etwa in der Linguistik und Ethnologie einhergehen, die sich nicht mehr im Rahmen der Philosophie bewegen und doch zu ihren Themen beitragen, aber auf eine alternative, dezentrierte Weise.

Damit führt das wissenshistorische Narrativ selbst genau mitten hinein ins Jahr 1966 und Foucaults eigene Auseinandersetzung mit dem Denken seiner Zeit und mit dem Strukturalismus, und der gedrängte Schreibstil des Textes verweist auf eine Überfülle impliziter Bezugnahmen und Positionierungen, von denen viele erst über die Kommentierung der Herausgeber transparent werden. Faszinierender als diese fast schon verbissen wirkenden Manöver sind zwei etwas disparat wirkende Motive vom Anfang und Ende des Manuskripts.

Ein Denken der Gegenwart

Zu Beginn behauptet Foucault recht apodiktisch, in ihrer langen Geschichte sei Philosophie eigentlich immer ein Denken der Gegenwart gewesen, noch in ihren verwissenschaftlichsten Varianten sei sie selbst immer eine Form gewesen, sich über sich selbst in einem bestimmten Moment und Raum Rechenschaft abzulegen, und damit ein Denken des Heute, selbst wo es sich ganz überzeitlich präsentiert.

Dieses Motiv kennen Foucault-Leser aus seinen allerletzten Texten, in denen er diese Beschreibung zu einem emphatischen Leitmotiv seiner eigenen Arbeit macht, in denen aber die Frage, ob das noch Philosophie ist oder etwas anderes, fast gar keine Rolle mehr spielt.

Ähnlich endet das Manuskript mit Überlegungen zur Wissenskultur seiner Zeit und denkt unter dem Titel des „Diskurs-Archivs“ darüber nach, was es bedeutet, dass eine Epoche wie die seinige eine fast vollständige Sammlung und Verwaltung seiner Wissensbestände und damit des Gesagten und Sagbaren zur Verfügung hat, und wie sich die Prozesse der Thematisierung oder „Diskursivierung“, das heißt des Auftauchens im Raum des Sagbaren, verlässlich erforschen lassen.

Auch hierfür spielt die Philosophie selbst als Diskurs gar keine besondere, höchstens eine exemplarische, illustrierende Rolle. Es ist verführerisch (und sicherlich etwas zu simpel), sich vorstellen, wie Foucault genau an diesem Punkt dieses Manuskript zugleich beendet und für überflüssig gehalten haben könnte.

Ein brillanter Zwischenschritt

Denn in seinem nächsten Buch, der „Archäologie des Wissens“ von 1969, wird er eine Art generalisierte, allgemeine Diskurstheorie oder Diskursanalyse entwickeln, die zugleich noch philosophisch, aber auch schon etwas ganz anderes ist, eine Methode, um eine Kultur zu verstehen, in der sich die etablierten Wissensformen und Medientechniken tiefgreifend wandeln und neu zusammensetzen.

Foucaults Werk, von dessen interner Entwicklung hier, gegen den Willen des Autors, ein brillanter Zwischenschritt erhalten und nachvollziehbar geblieben ist, konnte vielleicht deshalb so einflussreich werden, weil es für eine Zeit nützlich war, die mit alten Gewissheiten und Traditionen endgültig brechen wollte, aber die Werkzeuge für diese Abwehr in den Waffenkammern genau dieser Traditionen gefunden hat. Diese Zeit ist auch noch die unsere.

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