Forscher über Bildungsbericht 2024: „Das beste Programm seit Langem“

Das Startchancen-Programm kann gegen die Chancenungleichheit helfen, sagt Bildungsforscher Kai Maaz. Für die Kitas bräuchte es nun ähnliche Ansätze.

Ein Kind bei Schreibübungen.

Immer mehr Grund­schü­le­r:in­nen verfehlen die Mindeststandards, stellt die Studie „Bildung in Deutschland 2024“ fest Foto: Jana Fernow/imago

taz: Herr Maaz, Sie haben den Nationalen Bildungsbericht mitverfasst, der diese Woche vorgestellt wurde. Die Ergebnisse geben wenig Anlass zu Optimismus: Es fehlen auf Jahre Fachkräfte an Schulen und Kitas, die Chancenungleichheit ist anhaltend hoch und die Schulabbrecherzahlen steigen wieder. Wie schlimm ist es um die Bildung bestellt?

Kai Maaz: Wir sehen in dem Bericht die Probleme, die unser Bildungssystem bereits in den vergangenen Jahren vor große Herausforderungen gestellt und die sich zum Teil jetzt noch verstärkt haben. Neben den Punkten, die Sie genannt haben, sind das die nicht hinreichenden schulischen Leistungen. Die Gruppe der leistungsschwachen Schü­le­r:in­nen wird immer größer, die der leistungsstarken immer kleiner. Das ist vor allem bei den Basiskompetenzen in der Grundschule ein drängendes Problem, weil sich dieses Defizit dann möglicherweise durch die ganze Bildungsbiografie zieht. Diese Befunde müssen wir uns zu Herzen nehmen. Gleichwohl gibt es aber auch positive Entwicklungen.

ist Geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation und Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt am Main. Maaz ist zudem Sprecher der Au­to­r:in­nen­grup­pe des Nationalen Bildungsberichts.

Welche sind das?

Im Bereich der frühen Bildung erleben wir eine starke Expansion. In den letzten Jahren sind mehr als 10.000 Kitas neu entstanden. Positiv ist auch, dass viele junge Menschen nicht bei ihrem ersten Abschluss stehen bleiben, sondern sich weiterbilden. Unser System erlaubt, dass die Bildungskarrieren nicht in Stein gemeißelt sind und Abschlüsse zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt oder aufgewertet werden können.

Ihr Bericht bestätigt den Trend, dass immer mehr Grund­schü­le­r:in­nen die Mindeststandards beim Lesen verfehlen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich zuletzt auf mehr Deutsch- und Mathestunden an Grundschulen geeinigt. Wie viel versprechen Sie sich von dieser Maßnahme?

Im Grundsatz halte ich es für richtig, die Lernzeit derjenigen Fächer zu stärken, die wir als besonders wichtig ansehen und die uns vor Herausforderungen stellen. Die Skepsis, dass sich Schulen dann nur noch auf Deutsch und Mathe beschränkten, kann ich so nicht teilen. Ich sehe darin eher die Möglichkeit, über einen vertiefenden Unterricht auch besser auf die verschiedenen Leistungsstände der Kinder eingehen zu können. Wir wissen aus Studien, dass das kontinuierliche Trainieren positive Effekte auf Spracherwerb, Lesegeschwindigkeit und Sprachverständnis hat. Insofern gehe ich davon aus, dass diese Maßnahme wirkt.

Lehrkräfte beklagen, dass die Leistungsunterschiede schon riesig sind, wenn Kinder an die Grundschulen kommen.

Es stimmt: Wenn wir mit der Förderung erst in Grundschule anfangen, ist es zu spät. Wir haben gute Ansätze in den Bildungsplänen der einzelnen Kitas. Wir müssen aber das Personal noch stärker sensibilisieren und qualifizieren, damit sie den Bildungsauftrag stärker wahrnehmen können. Das ist kein Selbstläufer, nur Kitaplätze allein reichen nicht.

Eine Studie vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LifBi) zeigt, dass Kitas sogar in der Lage wären, die soziale Ungleichheit teilweise auszugleichen. Allerdings bekommen sozial benachteiligte Familien deutlich seltener einen Kitaplatz. Haben wir ein Problem mit struktureller Diskriminierung?

Es reicht jedenfalls nicht aus, nur Kitaplätze anzubieten. Wir wissen, dass der Bedarf der Eltern gerade bei den unter Dreijährigen nicht gedeckt ist und dass wir da bestimmte Eltern stärker adressieren müssen. Das ist auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, die in die Kita gehen, ist insgesamt deutlich niedriger als der ohne. Bei den Drei- bis Sechsjährigen ist der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund sogar gesunken. Dieser Befund hat uns schon überrascht.

Manche Kommunen versuchen, Familien von Geburt an zu begleiten. Sollte das zum Standard werden?

Ich finde, ja. Und dieses Engagement kann nur aus den Kommunen und den Bildungsregionen kommen. Helfen könnte, wenn wir alle Akteure in der Bildungslandschaft stärker miteinander vernetzen würden. Also beispielsweise Schulen mit den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, die oft eine hervorragende Arbeit machen, aber gar nicht in die Lerninhalte der Schulen eingebunden sind. Ein gutes Beispiel für eine Vernetzung im Sozialraum sind Familienzentren. Wenn man es schafft, die Eltern aus ihren Wohnungen zu locken, besteht auch eher die Chance, sie für Angebote wie einen Kitaplatz zu sensibilisieren.

Der Bildungsbericht zeigt, dass nur 32 von 100 Kindern aus sozial benachteiligten Familien eine Gymnasialempfehlung erhalten – bei den privilegierten Kindern sind es 78. Glauben Sie, dass das „Startchancen-Programm“, das diesen Sommer startet und zunächst mehr als 2.000 Brennpunktschulen mit zunehmenden Ressourcen ausstattet, an dieser Statistik etwas ändern wird?

Ja, das glaube ich. Das „Startchancen-Programm“ ist aus meiner Sicht das beste Programm seit Langem. Bund und Länder nähern sich der Chancenungleichheit nicht nur projektbezogen, sondern zum ersten Mal systemisch an. Es geht also nicht nur darum, am ­Unterricht etwas zu ändern, sondern es geht um Schule ­insgesamt, um Schulsozialarbeit, um die Verknüpfung zum Sozialraum. Zudem sollen auch die ­Unterstützungssysteme in den Ländern in das Programm eingebunden werden: ­Qualitäts­institute, Schulaufsicht, Angebote zur Schulentwicklung. Das mit in den Fokus zu stellen, halte ich für richtig.

Bund und Länder wollen mit dem Programm die Gruppe der Schüler:innen, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathe verpassen, halbieren. Ist das realistisch?

Wenn wir den Bereich der frühen Bildung nicht systematisch mitdenken, dann wird das nicht reichen, um diese Ziele zu erreichen. In den ersten Lebensjahren wird der Grundstein für die soziale Spreizung gelegt. Meine Hoffnung ist, dass wir jetzt mit den Schulen starten – aber in den Familienministerien schon darüber nachgedacht wird, wie solche systemischen Angebote für die frühe Bildung aussehen können.

Wäre es nicht an der Zeit, Kitas und Schulen ein und demselben Ministerium zu unterstellen, wie es in manchen Bundesländern bereits der Fall ist?

Das ist eine gute und schwierige Frage. Es besteht natürlich die Gefahr, dass man sich in einer Grundsatzdiskussion über die Ressortzuteilung verliert, die letztlich niemandem hilft. Wenn man die Frage von der Bildungsbiografie her denkt, spricht natürlich vieles dafür, die Steuerung in eine Hand zu legen und nicht in mehrere. Das könnte helfen, dass die Räder besser ineinandergreifen.

In dem Bildungsbericht fordern Sie und die übrigen Au­to­r:in­nen mehr kreative Lösungen. Beim Lehrkräftemangel setzt die KMK – nach anfänglicher Skepsis – nun auf Ein-Fach-Lehrkräfte und duale Ausbildungswege. Geht das in richtige Richtung?

Ja, absolut. Wobei ich beim dualen Studium etwas zurückhaltend bin. Das Ziel ist ja, die Praxisphasen im Studium früher beginnen zu lassen. Gleichzeitig sollen auch die Schulen entlastet werden, indem die Studierenden Unterricht übernehmen. Da müssen wir aufpassen, dass wir uns nicht in die Tasche lügen. Wenn Studierende das leisten sollen, dann müssen sie an dieser Schule auch eng begleitet und unterstützt werden.

Die Studierenden springen doch jetzt schon ein. In manchen Ländern wie Sachsen-Anhalt dürfen schon Bachelorstudierende als Vertretungslehrkräfte arbeiten. Ist es dann nicht besser, einzelne Schulen zu Ausbildungsstätten mit guter Betreuung zu machen?

Das ist tatsächlich eine Entwicklung, die ich mit Sorge betrachte. Von meinen Studierenden an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main arbeiten gefühlt 95 Prozent bereits in Schulen und übernehmen dort Verantwortung. Ich finde das Ausprobieren gar nicht falsch, wenn die Schulen das gut begleiten und die Studierenden ihre Erfahrungen wissenschaftlich reflektieren können.

Im Fokus des diesjährigen Bildungsberichts liegt die berufliche Bildung. Wo liegen dort die größten Herausforderungen?

Eine sehr große Herausforderung ist die soziale Selektivität beim Zugang zu Ausbildungsgängen und Abschlüssen. Das sieht man zum Beispiel daran, wie wenig Kinder aus Nichtakademikerhaushalten es nach wie vor auf die Uni schaffen. Dann ist uns aufgefallen, dass die Berufsorientierung an Schulen nicht immer gut gelingt. Wie gut die verschiedenen Angebote aber insgesamt sind und wirken, ist eine totale Blackbox. An Gymnasien wiederum findet so gut wie keine Berufsorientierung statt.

Im vergangenen Bildungsbericht 2022 haben Sie auf einen interessanten Zusammenhang hingewiesen: Etwa drei Viertel der Schul­ab­bre­che­r:in­nen holen in den Jahren drauf doch noch ihren Abschluss nach. Zeugt das von der Qualität des zweiten Bildungsweges – oder von der Ratlosigkeit der Politik, wie sie alle Schü­le­r:in­nen zum Abschluss führen kann?

Die Frage lässt sich jetzt so oder so beantworten. Die positive Botschaft ist: Das System ist offener und flexibler geworden. Es gibt die Möglichkeit, Abschlüsse nachzuholen. Die weniger gute Botschaft ist jedoch: 6,9 Prozent konnten am Ende der Schulpflicht nicht in die Lage versetzt werden, einen ersten allgemeinbildenden Abschluss zu erwerben.

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