Morris über israelische Staatsgründung: „Der Terrorismus verhärtet“

Der israelische Historiker Benny Morris hat ein unparteiisches Buch über den ersten arabisch-israelischen Krieg geschrieben. Ein Standardwerk.

Israelische Militärfahrzeuge 1948 in der Negevwüste

Israelische Militärfahrzeuge 1948 in der Negevwüste Foto: AGB photo/imago

wochentaz: Herr Morris, als Teil der Neuen Historiker haben Sie seit den 1980ern kritische Arbeiten zum israelischen Unabhängigkeitskrieg veröffentlicht. Was war damals neu an dieser Geschichtsschreibung?

Benny Morris: Bis dato umfasste sie vor allem Chroniken und Erinnerungen. Auf Grundlage von Dokumenten aus dem israelischen Staatsarchiv und aus mehreren Ministerien haben wir die offizielle zionistische Geschichtsschreibung zum 1948er-Krieg infrage gestellt. Die war lange Zeit wenig selbstkritisch und verzerrend in Bezug auf das Agieren der arabischen Seite.

Ihre Monografie „1948. Der erste arabisch-israelische Krieg“ wurde im Original im Jahr 2008 veröffentlicht und ist nun als erstes Ihrer Bücher auf Deutsch erschienen. Haben Sie Aktualisierungen vornehmen müssen?

Das war nicht nötig, weil seitdem kaum neue Dokumente aus dieser Zeit veröffentlicht worden sind. Die Archive der Geheimdienste sind zwar nach wie vor verschlossen. Aber auch nach deren Öffnung müsste die Geschichtsschreibung über den Krieg nicht grundlegend revidiert werden.

Die israelische Gesellschaft ist nicht nur im permanenter Alarmbereitschaft angesichts der militärischen Bedrohung von außen, sondern auch intern stark polarisiert. Hat das Auswirkungen auf die Rezeption Ihrer Forschung?

Ich bezweifle, dass die „neue Geschichtsschreibung“ jemals einen großen Einfluss auf das öffentliche Bewusstsein der Israelis hatte. Der arabische Terrorismus und die anhaltende arabische Ablehnung Israels hat die Haltung der Israelis verhärtet. Die meisten dürften die klassische Sicht auf den Unabhängigkeitskrieg vertreten: Die Araber griffen an, die Juden verteidigten sich; die Araber waren böse, wir waren nett und agierten heroisch. Die dunkle Seite des Krieges bleibt bis heute meist unangetastet.

Unter den „Neuen Historikern“ hat Ihr Buch von 1988, „The Birth of the Palestinian Refugee Problem 1947–1949“, ein besonders heikles Thema behandelt: die Flucht und Vertreibung von Palästinensern.

Dass 700.000 Palästinenser entwurzelt wurden, auch begleitet von Massakern, schmerzte damals viele linke Israelis. Für viele Rechte deckten sich meine Forschungsergebnisse eigentlich mit dem, was sie offen zugegeben und dessen Leugnung sie bei den Linken als Heuchelei kritisiert haben. Bei meinen Vorträgen bemerkte ich, wie viele betagte ehemalige Soldaten bei der Präsentation meiner Forschung erschraken. Inzwischen ist meine Forschung Teil des Kanons an den israelischen Universitäten.

Ihre Studie macht deutlich, wie unterschiedlich das Kriegsgeschehen von Ort zu Ort war. Reden wir über die Situation in Haifa, die heute am stärksten gemischte Stadt Israels, wo insgesamt über 20 Prozent arabische Staatsbürger leben.

Damals lebten in Haifa jeweils etwa 70.000 Juden und Araber. In den ersten Kriegsmonaten gab es auf beiden Seiten ständige Kämpfe und auch Bombenangriffe. Im April 1948 eroberte die zionistische Haganah-Miliz die arabischen Viertel der Stadt, als Reaktion auf arabisches Feuer, wie sie sagten. Die arabischen Führer der Stadt beschlossen daraufhin, die Stadt zu verlassen. Auf friedliches Zusammenleben nach dem Krieg hoffend, appellierte der jüdische Bürgermeister der Stadt, Shabtai Levy, an die verbliebenen Araber zu bleiben. Doch die arabischen Führer weigerten sich, weil sie nicht als Minderheit unter jüdischer Herrschaft leben wollten, aber auch aus Angst davor, von den „arabischen Brüdern“ als Verräter gebrandmarkt zu werden. Tausend Araber blieben aber – die Vorfahren der heutigen arabischen Bevölkerung in Haifa.

Die Geschichte von Haifa klingt einzigartig.

An den meisten Orten glaubten die Juden, die Araber würden nach dem Krieg den Staat militärisch oder politisch untergraben. Zumeist sind sie vor den israelischen Offensiven geflohen. Mancherorts auf Befehl der arabischen lokalen Führer und Kommandeure. Ganz anders war es hingegen in Lydda und Ramle, wo die größten Vertreibungen durch israelische Streitkräfte stattfanden. Insgesamt ist es mir wichtig zu betonen, dass die palästinensischen Flüchtlinge nicht als Ergebnis eines Masterplans zur ethnischen Säuberung entstanden sind – auch wenn genau das die klassischen Narrative der Palästinenser und der Araber behaupten.

… und damit – bei allem Leid, das Palästinenser und Araber auch erfahren haben – die eigene Agency im Konfliktgeschehen ausklammern.

Die Behauptung, die Palästinenser und die Araber seien jederzeit nur „Opfer“ fremder Aggressionen gewesen und hätten keine Handlungsmacht gehabt, ist absoluter Unsinn. Denn in jeder Phase des Krieges, aber auch schon vor 1948, erhoben sich Palästinenser und griffen Juden an. In den 1920ern verübten sie eine Reihe von Pogromen. Die arabische Seite lehnte die Peel-Kommission und deren Empfehlungen für eine Zweistaatenlösung von 1937 ab; genauso die von der UN-Generalversammlung 1947 vorgeschlagene Zweistaatenlösung. Schließlich begann die arabische Seite den Bürgerkrieg und griff Israel in Folge seiner Unabhängigkeitserklärung 1948 an, um den jüdischen Staat ungeschehen zu machen.

Müsste eine Berücksichtigung arabischer Agency nicht auch die Flucht und Vertreibung der Juden aus dem Nahen Osten und Nordafrika thematisieren, deren Nachfahren heute die Hälfte der israelischen Bevölkerung ausmachen?

Im Grunde genommen wollten die arabischen Gesellschaften ihre jüdischen Nachbarn ausspucken. Die Gemeinden bestanden bereits viele hundert Jahre und exisitierten im Irak schon weit vor der Ankunft der Araber und Muslime. 1948 machte die jüdische Gemeinde Bagdads ein Drittel der 150.000 Personen umfassenden Gesamtbevölkerung aus. Heute leben in Bagdad vielleicht noch fünf Juden. In Bahrain sind es vielleicht auch fünf, in Marokko vielleicht 2.000, wo es früher 300.000 waren. Dass es all diese Gemeinden nicht mehr gibt, ist ebenfalls Teil des vom 1948er-Krieg verursachten Flüchtlingsproblems. Doch dieses Problem wurde gelöst, weil die orientalischen Juden größtenteils Staatsbürger Israels wurden.

Viele Palästinenser vertreten die Forderung nach Rückkehr an die Wohnorte ihrer Vorfahren. Wie sehen Sie das?

Ich sehe zwar eine gewisse Symmetrie zur zionistischen Idee der Rückkehr in die alte jüdische Heimat. Insgesamt jedoch war und ist die Idee einer massenhaften Rückkehr der Palästinenser eines der zentralen Hindernisse für eine Zweistaatenlösung. Da die Nachfahren der 1948 Geflohenen und Vertriebenen dazugezählt werden, umfasst die Gruppe heute etwa 6 Millionen, das sind fast so viele Menschen wie der jüdische Teil der Bevölkerung Israels. Die Forderung steht daher im kategorischen Widerspruch zur zentralen Idee des Zionismus von einem Staat mit einer jüdischen Mehrheit. Für keine israelische Regierung ist das akzeptabel.

Sehen Sie in den palästinensischen Gebieten und in arabischen Ländern eine mit den „Neuen Historikern“ vergleichbare Forschung, die sich selbstkritisch mit der eigenen Rolle im 1948er-Krieg beschäftigt?

Ganz und gar nicht – leider! Die im Westen arbeitenden palästinensischen Historiker sind zwar weiter weg vom Druck der Diktaturen in den arabischen Ländern, die aus politischen Gründen die historische Wahrheit nicht zulassen. Doch auch sie haben Familie vor Ort und sind daher vorsichtig. Wir Israelis hingegen können das schreiben, was wir wollen. Schlimmstenfalls erhalten wir kein Stipendium oder keine Stelle an der Universität, wie mir das jahrelang passiert ist. Wir können es uns inzwischen aber erlauben, selbstkritisch zu sein: weil wir einen starken jüdischen Staat haben und bislang immer gewonnen haben.

Im Jahr 2015 hatte Premierminister Netanjahu behauptet, dass es der frühere Palästinenserführer, glühende Antisemit und Nazi-Kollaborateur Amin Hadsch al-Husseini war, der Hitler zur Shoah angestiftet habe. Gibt es ähnliche Instrumentalisierungen in Bezug auf den 1948er-Krieg?

Nicht dass ich wüsste. Allerdings sind einige Dokumente aus dem israelischen Staatsarchiv und dem Archiv des Verteidigungsministeriums nicht mehr einsehbar, weil sie ein schlechtes Licht auf Israels Verhalten um 1948 werfen. Für eine Recherche zum Massaker von Deir Yassin wollte ich mir die Dokumente eigentlich nochmals ansehen, auch weil es in der arabischen Erzählung eine große Rolle spielt.

Welche Rolle spielte die Religion im 1948er-Krieg?

Die arabische Feindschaft gegenüber dem Zionismus hatte schon damals ein starkes religiöses Element. So hat die Al-Azhar-Universität in Kairo – der Hauptinterpret des Islam in der sunnitischen arabischen Welt – unmittelbar nach der UN-Teilungsresolution und dem Beginn des Bürgerkriegs und auch noch später immer wieder den Dschihad zur Zerstörung des jüdischen Staates ausgerufen. Unter den arabischen Soldaten fand das Anklang.

Benny Morris: „1948. Der erste arabisch-israelische Krieg“. Aus d. Englischen übersetzt von J. Bruns/­ P. Kathmann. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2024, 646 S., 32 Euro

Und auf jüdischer Seite?

Die zionistische Bewegung war damals eine säkulare, sozialdemokratische Bewegung, die einen eigenen Staat auch entgegen traditioneller jüdisch-religiöser Dogmen errichten wollte. Die sehr wenigen religiösen Juden vor Ort waren nicht Teil des politischen und militärischen Establishments und hatten daher sehr wenig Einfluss auf die Kriegsführung. Trotz ihrer säkularen Prägung hatte die zionistische Bewegung aber ein tiefes historisches Bewusstsein, das sich in Bezug auf Orte wie Shilo, Betlehem oder der Westmauer als Teil des früheren jüdischen Tempels in Jerusalem zeigte. Dass etwa die Jerusalemer Altstadt anschließend in jordanischer Hand war, die Juden von dort umsiedeln mussten und sie bis 1967 keinen Zugang zur Klagemauer hatten, gehört ebenfalls zur häufig ignorierten Geschichte von 1948 und seinen Folgen.

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