Öffentlichkeit in Russland: Kriegsmüde Frauen
Im Oktober 2022 ordnete Russland eine Teilmobilisierung an. Weil ihre Männer bis heute nicht zurückgekehrt sind, begehren zunehmend Frauen im Land auf.
Die Mittdreißigerin ist in den Moskauer Präsidentenstab gekommen, hier können Russinnen und Russen ihre Unterschrift abgeben, damit Wladimir Putin als Präsidentschaftskandidat für die Abstimmung im März registriert wird. Seine Wiederwahl ist zwar bereits gesetzt, aber Unterschriften müssten eben für jeden Anwärter her, so sei das Gesetz, vermittelt der Staat seinem Volk. So wie er einst auch vermittelt hatte, dass sogenannte „Teilmobilisierte“ nach spätestens sechs Monaten Dienst an der Front in der Ukraine nach Hause kämen.
Die Bevölkerung nahm es hin, kaufte Thermounterwäsche für die Männer, die auch Väter und Brüder sind, organisierte schusssichere Westen, schickte Wollsocken an die Front, Kerzen für die Schützengräben, Essen. Auch Maria Andrejewa empfand es als „Ehre“, dass ihr Mann in den Krieg, den sie mit Putins Worten als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet, zog. Um die „Heimat zu verteidigen“, wie sie sagt.
Vor wem der gelernte Masseur sie verteidigen sollte, weiß Andrejewa allerdings bis heute nicht. Es sei nun ohnehin vorbei mit der „Ehre“, sie wolle keine Vergünstigungen für sich und ihre kleine Tochter, sie wolle ihren Frieden, mit ihrem Mann an ihrer Seite. In den Krieg könnten schließlich andere ziehen, Vertragssoldaten, Freiwillige, aber doch nicht ihr Liebster.
„Also ging er hin, dumm natürlich“
Seit Oktober 2022, zwei Wochen zuvor hatte Putin seine „Teilmobilisierung“ ausgerufen, war er nicht mehr zu Hause in Moskau. Seit September 2023 kämpft Maria Andrejewa mit anderen Frauen von Mobilisierten „für Gerechtigkeit“, wie sie sagt. Im Telegram-Kanal namens „Der Weg nach Hause“ posten sie ihre Geschichten, gehen mit Plakaten, die die Rückkehr der Männer einfordern, auf die Straße, legen jeden Samstag Blumen an den Denkmälern ihrer Städte nieder und bitten die Politik um Hilfe.
Da ist Antonina, die ihren Panzerfahrer-Ehemann wegen seiner Magengeschwüre nach Hause holen will. Da ist Jana, die ihren Mann nicht zurückhalten konnte, als der Einberufungsbescheid kam. „Was muss, das muss. Also ging er hin, dumm natürlich“, sagt sie heute. Da ist Mascha, die ihren Mann im Zinksarg zurückbekam und nun wütend fragt: „Warum gibt es keinen Aufschrei derer, die ihre Liebsten für immer verloren haben?“ Kaum eine von ihnen stellt – ob aus Vorsicht vor den repressiven Gesetzen oder aus Überzeugung – den Krieg grundsätzlich infrage, wie auch kaum eine von ihnen das Regime hinterfragt.
Manchmal aber klingen Zweifel an: „Wir irrten uns, indem wir glaubten, Politik gehe uns nichts an. Dann aber kam die Politik zu uns“, sagt eine, die nicht namentlich genannt werden will. Langsam realisieren sie, dass ihre Rechte nichts gelten in Russland. In ihr „Manifest“ haben die Frauen Forderungen wie diese aufgenommen: „Wir sind für die volle Demobilisierung der Zivilbevölkerung. Für die politische Stabilität und ein würdiges Leben eines jeden in Russland, für die Menschenrechte und einen Rechtsstaat. Wir sind gegen die legalisierte Knechtschaft. Gegen das Schweigen der Führung.“ Sie sind nicht das einzige Sprachrohr für die Angehörigen von Mobilisierten, auch Telegram-Kanäle wie „Wir holen die Jungs zurück“ oder „Wir sind zusammen“ sammeln Aufrufe von Frauen. „Der Weg nach Hause“ aber ist mit knapp 40.000 Abonnent*innen der bislang größte und öffentlich aktivste.
Doch Russland lässt die Frauen im Regen stehen. Lediglich der – noch nicht als Präsidentschaftskandidat registrierte – Systemoppositionelle Boris Nadeschdin hatte sich kürzlich in einem Moskauer Loft mit den Frauen getroffen. Dabei ging es dem Mann allerdings mehr um seine Selbstinszenierung als „Patriot und Kriegsgegner“ statt um die Anliegen der wenigen Frauen, die gekommen waren. Doch immerhin: Der Staat ließ sie gewähren.
Der Druck vom Kreml steigt
Für die Propagandist*innen sind die Frauen „Feindinnen“, „Verräterinnen“, „Provokateurinnen“, ihre Bewegung von westlichen Geheimdiensten ins Leben gerufen und bezahlt. Es ist die übliche Diffamierungskampagne gegen Personen, die das Regime, womit auch immer, kritisieren. Bei seiner Pressekonferenz im Dezember sagte Putin, eine „zweite Welle der Mobilisierung“ werde es nicht geben. Eine Perspektive für die „erste Welle“ gab er nicht. Dabei erklärte der russische Präsident das Jahr 2024 fast im gleichen Atemzug zum „Jahr der Familie“.
Andrei Kartapolow, Abgeordneter im Verteidigungsausschuss der Duma, erläuterte gar, die Männer kämen erst heim, wenn die „militärische Spezialoperation“ beendet sei. Für die aufständischen Frauen der Mobilisierten klingt das wie Hohn. „Wir sind denen egal, wir existieren nicht für sie, sie haben uns und unseren Männern das Leben gestohlen“, sagt eine von ihnen. Maria Andrejewa schimpft: „Herr Präsident, schämen Sie sich nicht? Sie haben Ihre Würde verloren. Wollen Sie sich noch weiter blamieren?“ Ihre Vorsicht lässt nach, ihre Radikalität nimmt mit jedem ihrer Auftritte zu. „Wir haben Fragen. Und wir wollen, dass diese Fragen gehört werden“, sagt Maria Andrejewa beim Treffen mit dem Möchtegern-Präsidenten Nadeschdin.
Die Behörden sind längst aufmerksam geworden auf die Aufmüpfigen. Ihre Blumenniederlegungen werden von Polizisten des sogenannten „Zentrum E“ gefilmt, einer Einheit für Extremismusbekämpfung, die oft auf Oppositionelle angesetzt wird. Der Inlandsgeheimdienst FSB habe einige von ihnen zur Befragung abgeholt, ihre Männer würden von den Kommandierenden an der Front unter Druck gesetzt, berichten die Frauen.
Der Unmut der Angehörigen bringt den Staat in Verlegenheit. Sie sind Putins Stammwählerschaft, die meisten von ihnen stehen nach wie vor hinter seiner Entscheidung zum Krieg. Sie sind das, was der russische Präsident gern als „das tiefe russische Volk“ bezeichnet. Menschen, die sich jahrelang, nahezu fraglos, der Losung des Kremls unterwarfen: „Wir sorgen für euer Wohl und ihr haltet euch aus der Politik heraus.“ Nun hat der Staat diesen Frauen nichts anzubieten. Das macht ihren Protest unberechenbar und so kurz vor der „Wahl“ zu einem Risiko.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des FInanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution