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R&B jenseits des MainstreamsKraftvoll, laut und sphärisch

Der R&B wurde in den USA 2023 abseits des Mainstreams von progressiven Künstlerinnen geprägt. Wie klingen Victoria Monét, Liv.e und Niecy Blues?

Gospel als Ambientklänge: die Musikerin Niecy Blues Foto: John Peters

Nach dem Ende der Soul- und Funkära modernisierte sich die Schwarze Popmusik der USA in den späten 1980er Jahren. Auf unterschiedliche Weise beeinflusst vom aufkommenden HipHop und von House, entwickelten sich im darauffolgenden Jahrzehnt Stilformen, die sich grob in drei Lager einteilen lassen: ein Mainstream mit Superstars wie Mary J. Blige, Janet Jackson und Brandy sowie Gruppen wie TLC und Destiny’s Child. Dahinter steckten oft Produzenten wie Teddy Riley, Jam & Lewis, Babyface und Jermaine Dupri; die futuristischen Breakbeat-Experimente, die Timbaland für Missy Elliott, Aaliyah und Ginuwine konzipierte, und schließich die Neo-Soul-Bewegung um Erykah Badu und D’Angelo, die klassischen Soul mit HipHop-Beats zu vereinen suchte.

Diese klaren Abgrenzungen gibt es auch in dieser Musikrichtung längst nicht mehr. R&B als Stil ist deutlich vielfältiger geworden. Und die Mu­si­ke­r*in­nen sind nicht mehr nur In­ter­pre­ten von fremdem Material, sondern sie verfassen und produzieren mittlerweile vielfach selbst.

Victoria Monét ist Komponistin und Musikerin. Die 34-Jährige hat in der Vergangenheit Singles etwa für Ariana Grande komponiert. Klar, dass sie auch an den elf Stücken ihres Debütalbums „Jaguar II“ mitgewirkt hat. Ihr Album ist beim Majorlabel RCA erschienen.

Klangtechnisch auf der Höhe der Zeit, ist sie tief in der Schwarzen Pop-Geschichte aus Soul, Funk Reggae und Rap verwurzelt, ohne einer Retroästhetik zu huldigen. Vielmehr ist bei Monét Musiktradition eher über Zitate und Anspielungen präsent: Vor Kraft strotzende Bässe und Bläserarrangements durchziehen die Stücke wie bei den Funk-Bands der 1970er, und tatsächlich schauen die Legenden von Earth, Wind & Fire in dem Stück „Hollywood“ auf einen Sprung vorbei.

Die Alben

Victoria Monét: „Jaguar II“ (RCA/Sony Music)

Liv.e: „Girl in the Half Pearl“ (In Real Life/Import)

Niecy Blues: „Exit Simulation“ (Kranky/Rough Trade)

In „Smoke Reprise“ erklingt eine Sitar als fernes Echo auf die Sweet Soul-Balladen aus Philadelphia. Der jamaikanische Dancehall-Star der 1990er Jahre, Buju Banton, kratzt in „Party Girls“ mit seiner rauen Stimme an der auf Hochglanz polierten Oberfläche.

Hymne weiblicher Selbstermächtigung

Outkast-Fans, die mit den esoterischen Flötentönen von Andre 3000 fremdeln, sollten sich dringend „Cadillac (A Pimp’s Anthem)“ anhören, ein Track, der auch auf dem Meisterwerk „Aquemini“ des US-Duos passen würde. Und dann ist da noch die Single „On My Mama“, die auf dem Stück „I Look Good“ (2009) des Rappers Chalie Boy basiert. Hier gelingt Monét das Kunststück, die materialistische Fetischisierung von Designerkleidung des Originals in eine Hymne weiblicher Selbstermächtigung zu verwandeln.

Während das Album von Victoria Monét mit Majorlabelunterstützung realisiert wurde, ist das zweite Album „Girl in the Half Pearl“ von Liv.e bei einem Indie-Label erschienen. Die 17 Stücke wurden komplett von Hailee Olivia Williams geschrieben, wie Liv.e mit bürgerlichem Namen heißt, und auch größtenteils von ihr selbst produziert. In ihnen erweitert die 25-Jährige den Sound von R&B in Richtung Club mit Anleihen an britische Jungle- und Drum-’n’-Bass-Rhythmen.

Musiktradition als Zitat: Victoria Monét Foto: Sony/RCA

Damit ist sie nicht allein, finden sich solche Anleihen auch bei Kelela und Rochelle Jordan. Liv.e treibt den vertrackten Beats jedoch ihre Partylaune aus und verwendet sie als Ausdruck psychischer Ängste, wenn sie etwa wie beim Auftaktsong „Gardetto“ dazu singt: „When I look inside my brain / There were all these words of pain“. Auf dem klassischen „Amen“-Break baut „Ghost“ auf. Der schepperende Rhythmus steht in Kontrast zu den langsam wechselnden Keyboardakkorden.

Diese ausgeglichene Spannung kippt, sobald die verzerrte Stimme von Liv.e einsetzt. Mehr schreiend als singend dreht sich der Text um Verlassenheit und Rückzug. Es sind diese inneren Zustände und Gefühlsschwankungen, für die Liv.e musikalische Minidramen voller Widersprüche und plötzlicher Wechsel findet. „Clowns“ beginnt mit einem sparsamen elektronischen Beat, über den sich der Gesang aufbaut, bis er zu einem brachialen Wutausbruch anschwillt. Dieser löst sich schließlich in jazzigen Bläsersätzen auf – das Ganze komprimiert in gerade einmal zwei intensiven Minuten.

Ins Atmosphärische transzendiert

Wenn Liv.e in ihren Stücken mit klassischen Songstrukturen bricht und auf Refrains und eingängige Hooklines zugunsten von Stimmungsbögen und Kontrasten verzichtet, werden bei Heather Sinclair melodische Linien ins Atmosphärische transzendiert. Unter ihrem Künstlerinnennamen Niecy Blues hat die aus South Carolina stammende Sinclair diesen Herbst ihr Debütalbum „Exit Simulation“ veröffentlicht.

Anleihen bei Clubmusik: Liv.e Foto: In Real Life

Begleitet von ihrer Gitarre, legt Niecy Blues in den 13 Stücken ihres Debüts Gesangschicht auf Gesangsschicht. Spärlich eingesetzte Rhythmusinstrumente dienen dazu, den Takt bloß zu markieren, wie der gedehnte Bass in „U Care“ oder das Schlagzeug in „The Architect“, das wie bei einer Komposition der Minimal Music rein mechanisch abzulaufen scheint. Durch zusätzliche Halleffekte wie bei „The Nite B4“ gleichen die Stücke an- und wieder abschwellenden Klangflächen, unter denen Emotionen pulsieren.

Geschrieben, produziert und arrangiert von Niecy Blues selbst, hat sie Unterstützung von Khari Lucas bekommen, der als Contour mit dem Album „Onwards!“ eine der großartigsten R&B-Werke von 2022 vorgelegt hat. „Exit Simulation“ ist beim US-Indie-Label Kranky erschienen, dessen Schwerpunkt früher auf Ambient lag, eine passende Verbindung für Niecy Blues. Allerdings hat ihre Version von Ambient kaum etwas mit Brian Eno zu tun, ihr begegnete dieser Sound zum ersten Mal in der langsamen Gospelmusik, die sie schon im Kindesalter in der Kirche gehört hat.

Auseinandersetzung mit der Geschichte, Verarbeitung von seelischen Zuständen, Übergang in spirituelle Sphären – ein reichhaltiges Jahr für die R&B-Musik in den USA und eine Möglichkeit zur künstlerischen Emanzipation für progressive junge Musikerinnen.

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