Israel und seine Gegner: Nicht wiedergutzumachen

In Israel wird die Wut auf die Netanjahu-Regierung nur noch vom Entsetzen über die fehlende Anteilnahme der Welt übertroffen. Reise in ein terrorgeplagtes Land.

Ein Feld mit schrottreifen, verbrannten Autos

Die blechernen Überbleibsel eines Massakers: von der Hamas zerstörte und in Brand gesetzte Autos Foto: Abir Sultan/epa

TEL AVIV/HAIFA/KFAR taz | Es gibt universale Bilder, die von Schrecklichem künden, ohne tatsächlich Gewaltspuren aufzuweisen. Ein leerer Spielplatz kann so ein Bild sein. Zwei Schaukeln, die in der Mittagssonne vergeblich auf Kinder warten.

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Sderot war bis vor Kurzem eine mittelgroße Stadt im Süden Israels. Die meisten der 30.000 Ein­woh­ne­r:in­nen sind inzwischen vor dem Terror geflohen, der am 7. Oktober plötzlich Eingang in ihre Straßen fand. Bis vor Inkrafttreten des Waffenstillstands gab es täglich Raketenalarm. Heult die Sirene los, haben die verbliebenen Be­woh­ne­r:in­nen Sderots etwa 15 Sekunden Zeit, um einen der an jeder Straßenecke stehenden Schutzräume zu erreichen.

In unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen jedoch, von wo aus zuletzt fast im Stundentakt Raketen Richtung Israel abgefeuert wurden, sind es gerade mal sieben Sekunden, bis das Geschoss am Himmel auftaucht – und hoffentlich vom Iron Dome abgefangen wird.

In Kfar Aza haben die Luftschutzbunker wenig geholfen. Am 7. Oktober drangen Hamas-Terroristen in den Kibbuz ein und töteten systematischer, als Raketen es vermögen. Haus für Haus nahmen sich die Islamisten vor. Der Grad der Zerstörung ist gewaltig und sichtbar: Häuser sind aus ihrem Fundament gebombt, in Brand gesteckt. Möbelstücke liegen auf den Gehwegen, Einschusslöcher sind in Fernsehern oder Duschwänden zu erkennen.

Friedensaktivisten unter den Ermordeten

Eine Katze streift durch die Ruinen, bei jedem der laut zu hörenden Bombeneinschläge auf der anderen Seite des Zauns schreckt sie zusammen. Nur wenige hundert Meter weiter wird gekämpft. Die biblischen Tore von Gaza, die Mosche Dajan 1956 in seiner zum Bezugspunkt der noch jungen israelischen Nation gewordenen Rede zitierte, sie lasteten auch auf den Be­woh­ne­r:in­nen von Kfar Aza. Einige der hier Ermordeten waren israelische Friedensaktivisten, die sich jahrelang für die Nachbarn in Gaza eingesetzt hatten.

Eine Frau hält ein Schild mit dem Foto zweier entführter Israelis

Täglich versammeln sich Angehörige der Geiseln auf dem Vorplatz des Tel Aviv Museum of Art Foto: Shir Torem/reuters

Die Be­su­che­r:in­nen des Raves, der unweit von hier stattfand, waren großteils junge Städter:innen. Die Autos derjenigen, die versuchten, vor den Terroristen zu fliehen, befinden sich immer noch in der Negev-Wüste, zwischengeparkt auf einem Autofriedhof. Auf ihre einstigen Be­sit­ze­r:in­nen deuten noch Lippenstifte im Fußraum, Handy-Ladekabel.

Im Judentum muss der ganze Körper bestattet werden, samt all seinen Einzelteilen. Blutspuren finden sich daher keine mehr. Dass in diesen Autos Menschen gestorben sind, davon zeugen auch die Einschusslöcher in den Frontscheiben. Die zu Schrott gefahrenen Mopeds der Terroristen liegen auf einem anderen Haufen.

Es ist gerade oft vom Kampf der Weltbilder die Rede in Israel. „Das Köpfen, das Schänden, das Abschlachten“, zählt Ari Shavit auf, „das sind Methoden des 11. Jahrhunderts, mit denen Menschen des 21. Jahrhunderts ermordet wurden.“ In Israel habe man geglaubt, als „Hightech-Nation“ leben zu können wie in Europa, sagt der Autor und Journalist. „Wir haben vergessen, dass unser Land im Nahen Osten liegt.“

Angehörige versammeln sich täglich auf zentralem Platz

Die Terroristen ermordeten über 1.200 Zivilisten und verschleppten über 240 Menschen in den Gazastreifen. Darunter die Schwestern Dafna (15) und Ella (8) Elyakim. Ihre Tante Tagit Tzin zeigt wie andere Angehörige der Geiseln täglich Präsenz auf dem Vorplatz des Tel Aviv Museum of Art. Seit Wochen schläft sie dort in einem Zelt. Sie zeigt ein Video der Familie, das die Hamas über den Facebook-Account des ermordeten Vaters hochlud. Darin sind die beiden Mädchen mit gebrochenem Gesichtsausdruck in Gegenwart der Terroristen zu sehen. Beide tragen nach einer Weile nicht mehr dieselben Schlafanzüge wie zu Anfang.

Tzin hat für die israelische Regierung nur Worte der Verachtung übrig. Neuigkeiten zu den Geiseln erfahre sie lediglich aus den Medien, sagt sie. Zu einem Treffen zwischen Regierungsvertretern und Angehörigen ist es erst kürzlich, über sechs Wochen nach dem Massaker, gekommen. „Sie hatten nicht mal genug Stühle für alle besorgt“, winkt Tzin ab. Die Namen ihrer Nichten stehen auf der Liste jener 50 Geiseln, die die Hamas im Gegenzug für ein Vielfaches an palästinensischen Gefangenen und einen mehrtägigen Waffenstillstand freilassen will. Bei Redaktionsschluss waren 24 Geiseln bereits freigelassen worden, Dafna und Ella Eyakim waren nicht darunter.

Update: Am Sonntagnachmittag wurden weitere Geiseln freigelassen, darunter auch die beiden Nichten von Tagit Tzin.

Auf Kritik am Premierminister können sich dieser Tage alle einigen. Die Tageszeitung Haaretz prangert immer wider die Unfähigkeit der Regierung an. Die Wut auf Benjamin Netanjahu ist gewaltig, nicht nur weil die israelische Armee am 7. Oktober damit beschäftigt war, die Siedler im Westjordanland zu schützen. Viele machen „Bibi“ dafür verantwortlich, eine starke Hamas in Kauf genommen zu haben, um die Palästinenser zu spalten.

Nun muss mit einer Terrororganisation, die seit ihrer Gründung zum Dschihad gegen „die Juden“ aufruft, über das Leben von über 200 Geiseln verhandelt werden. „Es gibt nichts, was die Hamas von uns will“, fasst Ehud Olmert die Lage zusammen. Trotzdem sieht der ehemalige Ministerpräsident Israels (Kadima) keine Alternative zum Krieg gegen die Islamisten, „auch wenn der Preis sehr hoch sein wird“.

Zweistaatenlösung in der Diskussion

Olmert, der schon einmal versucht hat, sich mit Palästinenserpräsident Abbas auf eine Zweistaatenlösung zu einigen, drängt dazu, Verhandlungen nach Ende des Kriegs wieder aufzunehmen. Das gelte es, jetzt bereits in Aussicht zu stellen, meint er, wohlwissend, dass das mit der aktuellen Rechtsregierung nicht zu machen sei. Daher müsse sie gehen, „jetzt sofort“.

Was auf den Krieg gegen die Hamas folgt, da gehen die Meinungen aus­ein­ander. Es gibt Vorschläge, Gaza zu entmilitarisieren und eine Art Marshall-Plan unter Führung Saudi-Arabiens oder der Vereinigten Arabischen Emirate aufzustellen. Unter den Liberalen in Israel ist die Zweistaatenlösung dieser Tage wieder in aller Munde. Palästinenser und Israelis gemeinsam unter einer Flagge leben zu lassen, hält der Journalist Dan Perry für unrealistisch. Aufgrund der Bevölkerungszusammensetzung wäre es dann kein jüdischer Staat mehr, sagt er. Für die 600.000 jüdischen Siedler, die im Westjordanland leben, hat er kein Verständnis. „Das sind Extremisten“, meint er. Ginge es nach ihm, würde er die Siedler sofort zum Verlassen ihrer Außenposten zwingen.

Schon einmal hat Israel jüdische Siedlungen abreißen lassen. 2005 ließ Ministerpräsident Ariel Scharon (Likud/Kadima) unter heftigem Protest 21 Siedlungen im Gazastreifen räumen und zerstören. Keine zwei Jahre später kam die Hamas gewaltsam an die Macht. Israel verstärkte daraufhin seine Grenze zu dem nun von Islamisten besetzten Gebiet – ebenso wie Ägypten, das 2008 eine Mauer zum Gazastreifen errichtete. Der erneuten Bitte Israels, die Verantwortung für Gaza an Ägypten übergeben zu dürfen, kam man in Kairo nicht nach.

Dass aktuell in Gaza Zivilisten sterben, sei schrecklich, sagt Perry. Er sei gegen Krieg, aber genau „wie alle anderen Kritiker Israels“ habe er keine Alternativlösung anzubieten. Statt um Alternativen scheint es in der internationalen Israelkritik ohnehin primär um Dämonisierung zu gehen.

Über Boykott­aufrufe, die unangenehm nach „Kauft nicht bei Juden!“ klingen, und Terror-Apologeten, die Israelis genozidale Absichten unterstellen, wurde schon viel geschrieben. Es ist schmerzhaft, wie verzahnt nur nachlässig als Israelkritik getarnter Antisemitismus mit der linken Szene und der Kunstwelt ist, schmerzhaft vor allem für israelische Angehörige ebendieser Welt.

Mangel an Empathie verstört

„Wir verlangen nicht, dass jemand unsere Seite einnimmt“, sagt Mira Lapidot. Aber dass ein Milieu, das Wert auf kritisches Denken lege, nicht anerkenne, dass die Situation in Israel komplex sei, ist für sie nicht nachvollziehbar. Die Chefkuratorin des momentan geschlossenen Tel Aviv Museum of Art, berichtet von Künstler:innen, die sehr einseitige Positionen vertreten. „Wer sagt ‚From the River to the Sea‘ will offensichtlich nicht, dass unsere Institution existiert.“ Der Mangel an Empathie hat sie nachhaltig verstört. Internationale Frauenorganisationen schwiegen bis heute angesichts der von der Hamas verübten sexuellen Gewalt, sagt sie. „Das ist nicht wiedergutzumachen.“

Lapidot trifft besonders, dass einige Jü­d:in­nen weltweit in den Chor der Israelkritiker einstimmten. Die Frage, ob innerhalb Israels jüdische Stimmen zu vernehmen seien, die die Militäroperation in Gaza ablehnten, verneint sie. Obwohl zuvor monatelang gegen die Regierung protestiert wurde. „Wir stecken zu sehr drin“, sagt Lapidot. „Jeder kennt jemanden, der jemanden verloren hat.“

Die Terrorattacke am 7. Oktober ist der blutigste Angriff auf Jü­d:in­nen seit dem Holocaust. Geiselnahmen in dieser Größenordnung kommen abgesehen von der Massenentführung durch Boko Haram in Nigeria 2014 praktisch nie vor. Israel hat viele Feinde. Zuletzt kündigte im Norden mehrmals täglich der Raketenalarm die Ankunft von Hisbollah-Geschossen an.

Gemeinden, die zu nah an der Grenze zum Libanon liegen, wurden evakuiert. Die Be­woh­ne­r:in­nen des Kibbuz Dan sind derzeit in einem Hotel in der nordisraelischen Stadt Haifa einquartiert. In der nach Raumspray riechenden Lobby sitzen ältere Frauen in Ledersesseln und stricken, draußen fahren Kinder auf Laufrädern im Kreis. Ihre Eltern sind ratlos. „Krieg, das bedeutete früher immer Raketen“, sagt die Sozialarbeiterin Yael. Sie fürchtet, Hisbollah-Terroristen könnten zu Nachahmern der Hamas werden.

Ein Krankenhaus im Untergrund

Ob sie sich je wieder sicher genug fühlen wird, in ihren Kibbuz zurückzukehren, weiß sie nicht. Lena, die aus Schlomi evakuiert wurde und mit ihrer Familie im Nachbarhotel wohnt, hat überlegt, das Land zu verlassen, sich dann aber zum Bleiben entschlossen. „Als Jüdin fühle ich mich trotz allem momentan nur in Israel sicher“, sagt sie und spielt auf die stark gestiegene Anzahl an antisemitisch begründeten Gewalttaten in der westlichen Welt an.

In Israel gibt es kaum eine Familie, die keine Kriegs- und Traumaerfahrungen hat. Wer den Holocaust überlebte, musste seine Kinder in den Jom-Kippur-Krieg, seine Enkel womöglich in den ersten Libanonkrieg ziehen lassen. All diese Kriege, die Todfeinde ringsum haben Israels Sicherheitsinfrastruktur nachhaltig geprägt.

Es war der zweite Libanonkrieg 2006, als Raketen auf die Stadt Haifa niedergingen, der auch das Rambam-Krankenhaus zum Umdenken gebracht hat. Wo sonst Autos parken, steht nun Klinikdirektor Michael Halberthal inmitten von 2.000 Krankenhausbetten. „Sie befinden sich gerade im größten Untergrundkrankenhaus der Welt“, sagt er.

In Friedenszeiten sei es ein normales Parkhaus. Wenn nötig, lasse sich jedoch in jeder Parkbucht ein Krankenhausbett unterbringen, die entsprechenden Anschlüsse liegen hinter grauen Verdecken bereit. „Bei einem Krieg mit der Hisbollah müssen wir damit rechnen, dass alle vier Minuten eine Rakete auf uns geschossen wird“, sagt er. Vorsorglich habe die Klinikleitung nach dem 7. Oktober beschlossen, das Untergrundkrankenhaus auf den Ernstfall vorzubereiten. Auch wenn Halberthal stolz ist auf diese Krankenstation, die Sorge ist ihm anzusehen. „Lassen Sie uns hoffen, dass die Betten unbelegt bleiben“, sagt er. Auf dass hier unten bald wieder Autos parken.

Transparenzhinweis: Die Recherche wurde vom European Jewish Congress unterstützt.

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