Säure auf das Fundament der Moderne

Kein Konsens, kein Ideal, sonst war alles möglich in der Postmoderne. Heute wirken ihre Objekte wie aus einer fremden Zeit, ihre gesellschaftlichen Anliegen aber beschäftigen uns wieder. Was war das für eine Ära?, fragt eine Ausstellung in Bonn

Klare Funk­tionen wie beim Design der Moderne gelten bei diesem Bett beziehungsweise Boxring eher nicht: Masanori Umeda (Memphis Milano), Tawaraya- Ring von 1981 Foto: Courtesy of Memphis Milano

Von Oliver Tepel

Kein Jubiläum, auch kein Revival in Sicht, warum also heute eine Ausstellung zur Postmoderne? Anregend, vielleicht einsichtsreich mag der jetzige Zeitpunkt dafür sein, wo er den einen Erinnerung, den anderen Einblick in eine längst befremdlich gewordene Ästhetik bedeutet. Aber verdient die Postmoderne überhaupt den Begriff der Epoche, war sie nicht eher eine Mode?

Derart schlecht beleumundet, erstaunt, wie einflussreich die Postmoderne für die Kunst war. Die so unmittelbaren wie zitatreichen Arbeiten der amerikanischen Pictures Generation, etwa von Cindy Sherman oder Robert Longo, die Adaption der Graffitikunst bei Jean-Michel Basquiat oder Keith Haring, auch die undogmatische Produktivität von Gerhard Richter oder Rosemarie Trockel generierten einen bis heute andauernden Boom. Und doch ist es richtig, wenn die Kuratoren von „Alles auf einmal: Die Postmoderne, 1967 – 1992“, Eva Kraus und Kolja Reichert, der Galeriekunst eher wenig Platz einräumen und die Ausstellung in der Bonner Kunsthalle mit einer Projektionswand für Musikvideos beginnen lassen. In der Postmoderne war es nicht mehr zu verleugnen: Die technisch reproduzierbare, elektrifizierte Musik sowie der Film durchdrangen nahezu alle Bereiche der Kultur, sie schufen Realität.

So betritt man auch durch die Leinwand hindurch den zentralen Ausstellungsraum. Umgehend wähnt man sich in einem überquellenden Phantasma. Ästhetische Konzepte aus Pastelltönen wetteifern mit solchen in Primärfarben, derweil setzt farbiges Neonlicht Akzente. Wände mit großformatigen Fotografien und als überdimensionierter Buchumschlag getarnte Hörkabinen verstellen die Sicht auf exzentrisch gestaltete Möbel. Hier locken Architekturmodelle augenfälliger Bauten, in denen antike Säulenportale aus modernen Grundformen wuchern, dort verblüfft ein keilförmig-futuristisches Auto auf einer gemalten Straße, und an Pfeilern finden sich in Überkopfhöhe montierte Modefotografien, deren coole Models sich vom Betrachter abwenden. Tatsächlich, alles auf einmal!

Ist es das Abbild jener Ära, was bedingt dann dieses Chaos? Beim Anblick der ersten Werke scheint es, als geriete die Moderne höchstens ein bisschen ins Wanken. Eine vier Meter hohe vergoldete und für die Ausstellung nachgebildete TV-Antenne, die Architekt Robert Venturi 1963 auf dem Dach eines Altenheims in Philadelphia platzierte, was soll sie bieten, verglichen mit dem Ausloten aller formalen Grenzen in der Moderne? Ihr Regelbruch war nicht allein die Kenntlichmachung des Massenmediums Fernsehen, es war das Überdimensionierte, das Schmückende.

Im Jahr darauf fragen Elaine Sturtevants Kunstwerke nach dem Authentischen, sind sie doch exakte Kopien von Warhols und Lichtensteins Pop-Art, das Simulacrum bemächtigt sich der Kunst. Zeitgleich, 1964, erhält Martin Luther King den Nobelpreis. Unterdrückte Gruppen weltweit sind nicht mehr bereit abzuwarten, bis die paternale Moderne ihre Versprechen einlöst. Eine neue Phase der Identitätspolitik bricht an, geprägt durch theoretische Texte von Michel Foucault oder bell hooks. Erstmals massiv erklingen auch Fragen nach dem Raubbau des Industriezeitalters an der Natur. Säure auf das Fundament der Moderne.

Bald boomt dekonstruktivistische oder ornamentverliebte Architektur. Auf Fotos, Zeichnungen oder Modellen sind Hans Holleins „Verkehrsbüro“ mit goldenen Palmen und Pavillon zu sehen, Ricardo Bofills Wohnungsbaukoloss „Espaces d’Abraxas“, ein „Versailles für das Volk“ in einer Pariser Banlieue mit labyrinthischen Gängen und Formenzitaten aller Bauepochen oder James Wines Zweckbauten, deren Fassade sich briefmarkengleich abzulösen scheint. Sie bilden das Rückgrat der Ausstellung, die Gebäude und der Traum von ihnen. Letzterer führt zu phantastischen Skizzen des italienischen Designers Ettore Sottsass. In „The Planet as a Festival“ imaginiert er die Architektur für eine ewige Party.

Doch der Stein des Anstoßes, den Sottsass, Alessandro Mendini und andere Designer der Gruppen Alchimia und Memphis legten, manifestierte sich in kleineren Objekten: ein Rokokosessel in Neonfarben, eine Tischleuchte gleich einem kubistisch abstrahierten Vogel. Nichts repräsentiert die Postmoderne in all ihrem Potenzial so wie das italienische Design der 70er und 80er. Dies wird in Bonn gut dokumentiert. Dennoch bleibt Italiens Bedeutung unterrepräsentiert. Heute von der aktuellen Kultur vergessen, erfanden dort Künstler neue figurative Malerei, Comics, Literatur und Mode. Leider wird die von Walter Albini in den 70ern inszenierte Rückkehr der italienischen Couture und der weltweit prägende Paninaro Streetstyle bei der Auswahl der gezeigten Kleider nur gestreift. Zu sehen ist dafür der Boom japanischer Avantgarde sowie die aufregenden Innovationen Lagerfelds und Westwoods. Ja, bei allem Umfang bleibt es eine Ausstellung der Spotlichter.

Der Club als Ort der Freiheit erhält einen Raum, an seinen Wänden Fotos vom New Yorker „Studio 54“, dem „Palladium“ und dem Londoner „Blitz“, Ort der exzentrischen „New Romantics“. Hier erlebt die Postmoderne heute ihre massivste Ablehnung (und im Stillen ihre Verführungskraft): in der Idee dekadent gekleideter Menschen, die das Leben feiern und sich mit Objekten umgeben, die ihre Funktionalität verleugnen. Wer diese Menschen waren? Oft Arbeitslose, Übriggebliebene einer niedergegangenen britischen Indus­trie. Die auf einem der Fotos zu sehende Londoner Band Spandau Ballet formulierte es so: „Wenn du keinen Stammbaum hast, dann hast du das, worin du erscheinst: Du hast deine Kleidung.“

In der Ausstellung kontrastieren einander politischer Aufbruch und Ernüchterung über die Versprechungen an eine soziale Welt. Man findet die Suche nach Teilhabe wie zugleich die Verweigerung, den zugedachten, soziokulturellen Klischees zu entsprechen, ja überhaupt benennbar zu sein. Nichts ist festlegbar, Subjekt wie auch Objekt entsagen im spielerischen Ornament der Fremdbestimmung.

„Wenn du keinen Stammbaum hast, dann hast du das, worin du erscheinst: Du hast deine Kleidung“

Spandau Ballet

Kann das als Epoche gelten? – Die postmoderne Malerei Italiens spielte um 1985 mit der Stilidee des „Hyper-Manierismus“. Und auch die Theorie versuchte sich an jener drastischen Kunst des Manierismus, die auf die Hochrenaissance folgte und deren Gesetzen der Klassik widersprach. Geradezu aufgebracht fragte 1995 der Buchtitel des Kunsthistorikers Stefan Grundmann „Moderne, Postmoderne, und nun Barock?“ Der von ihm allein stilistisch analysierte Manierismus bleibt bis heute rätselhaft.

Wie kam es um 1520 zu den überstreckten Gliedmaßen in den Bildern Parmigianinos und den artifiziellen Farben bei Domenico Beccafumi? Einige deuten diese Kunst als strukturelle Konsequenz aus der Perfektion Michelangelos. Ein Endpunkt war erreicht, es bedurfte, allein aus ökonomischer Perspektive, neuer Stile – so auch in den 1960ern? Andere verweisen auf den Schock der Reformation, auf die Plünderung Roms durch Söldner Kaiser Karls V. anno 1527 und sehen im gespreizten Schick des Manierismus ein Echo auf das Ende ewig gültig geglaubter Überzeugungen. Wieder andere wie Gustav René Hocke erkennen in seinem Artifiziellen und labyrinthischen Zweifel das moderne Ich.

Vielleicht war es all das. Die Postmoderne, sich Ideal und Konsens verweigernd, gab der Moderne in einem Crescendo aus neuen Perspektiven, Dekonstruktionen, Antithesen und den Forderungen des Ich nach persönlicher Freiheit einen Abschluss.

Anything goes: Dino auf Alessi-Teekessel oder Elefant auf Museumsbau, wie ihn hier Hans Hollein skizziert hat Foto: Abb.: Privatarchiv Hollein

Ob die Postmoderne auf Katastrophen reagierte? – Der aus der Typografie von Robert Indianas berühmten „LOVE“-Logo geformte „AIDS“-Schriftzug der Künstlergruppe General Idea füllt die letzten Ausstellungswände. Man wird wieder jener beklemmenden Zeit gewahr, in der die Diagnose einer HIV-Infekion ein Todesurteil bedeutete. Ihre Erinnerung verliert sich – derweil zur Musik jener Tage immer noch getanzt wird. Die kulturelle Ideen­flut ebbte bereits in den 90ern ab.

Heute wirken Objekte der Postmoderne wie aus einer fremden, exaltierten Zeit. Ihre gesellschaftstheoretischen Anliegen beschäftigen uns aber mehr denn je. Ist sie also gar nicht vorbei? Gegen Ende der Ausstellung tauchen die Musikvideos wieder auf. Für seinen Clip zu New Orders „Bizarre Love Triangle“ greift Robert Longo 1987 seine Zeichnungen von wie erschossen fallenden Businessanzugträgern auf. Hier nun stürzen sie durch die Luft. Wann endete die Postmoderne? Vielleicht seit Longos Motiv von den stürzenden Anzugträgern nicht mehr nur antikapitalistische Plattitüde ist, sondern auch das Entsetzen der Bilder vom 11. September 2001 wachruft, als Menschen von den New Yorker Twin Towers springen mussten.

Stefan Grundmanns Befürchtung traf vielleicht ein, nun sind wir im Barock, mit seinen Kriegen, Verwerfungen und seinem Ringen um ein neues Miteinander.

„Alles auf einmal: Die Postmoderne, 1967–1992“: Bundeskunsthalle Bonn, bis 28. Januar 2024