Schock und Trauer in Hamburg

In einem Gemeindehaus der Zeugen Jehovas schießt ein Amoktäter um sich und tötet sieben Menschen und sich selbst

Blumen vor einem Gebäude der Zeugen Jehovas im Hamburger Stadtteil Alsterdorf am Freitag Foto: Daniel Bockwoldt/dpa

Von Kaija Kutter
, Jan Kahlcke
, Konrad Litschko
und Tanja Tricarico

Als Michael Tsifidaris, der Sprecher der Zeugen Jehovas in Hamburg und Altona, auf der Pressekonferenz der Polizei das Wort ergreift, wird deutlich, welches Grauen sich am Vorabend im „Königsreichsaal“ der Reli­gions­gemeinschaft abgespielt hat. 36 Menschen waren am Donnerstagabend im Gottesdienst, 25 weitere waren digital zugeschaltet, als gegen 21 Uhr der Amokläufer Philipp F. die Scheiben zerstört und zu schießen beginnt.

Das erklärt vermutlich, warum bereits um 21.04 Uhr 47 Notrufe bei Polizei und Feuerwehr eingingen. Schon um 21.09 Uhr war eine Beweis­sicherungsfestnahmeeinheitder Polizei vor Ort am Gemeindehaus im Hamburger Stadtteil Groß Borstel, die speziell für Amoklagen geschult ist. Die Beamten hätten erkannt, dass sofort gehandelt werden müsse und sich Zugang zum Gebäude verschafft, indem sie in die Türscheibe zerschossen hätten, berichtet der Chef der Schutzpolizei Matthias Tresp. Der Täter war nach oben in der ersten Stock geflüchtet, wo sie ihn tot am Boden liegend mit einer Faustfeuerwaffe gefunden hätten. Im Saal waren bei den Schüssen zuvor sieben Menschen getötet worden, darunter eine hochschwangere Frau in der 28. Woche. Acht weitere Menschen wurden verletzt, vier von ihnen schwer.

Tsifidaris erklärt, wie entsetzt die Gemeinde von dem Vorfall sei. Er bedankt sich für den schnellen Einsatz, der vermutlich verhindert habe, dass es noch mehr Tote gebe. Man wolle am Montag alle Helfer zu einem runden Tisch einladen. Ähnlich fassungslos äußerte sich auch der Sprecher der Zeugen Jehovas Deutschland. „Wir sind tief schockiert und betroffen von der Amoktat auf unsere Glaubensangehörigen“, sagte Martin Epp der taz. „Unser Mitgefühl und tiefste Anteilnahme gelten den Familien der Opfer sowie den traumatisierten Augenzeugen. Wir beten für alle Betroffenen.“

Der Attentäter war Mitglied der Zeugen Jehovas, hatte die Kirche vor einiger Zeit aber verlassen. Brisant ist, dass er Besitzer einer Sportwaffe war und die mutmaßliche Tatwaffe Heckler & Koch P30 legal besaß, den Waffenschein hatte er erst im Dezember bekommen. Wie Hamburgs Polizeipräsident Ralf Meyer berichtet, gab es im Januar eine anonyme Warnung, dass der Täter psychisch beeinträchtigt sei und Wut auf reli­giö­se Anhänger wie die Zeugen Jehovas habe. Die zuständigen Beamten statteten dem 35-Jährigen noch am 7. Februar einen unangemeldeten Hausbesuch ab. Dort soll die Waffe aber ordnungsgemäß in Tresor gelegen haben. Es hätten keine Gründe vorgelegen, die ein psychologische Gutachten hätten erzwingen können, sagte Meyer. Möglich, dass nach dieser Tat die rechtlichen Befugnisse „angepasst“ werden müssten.

Philipp F. stammt laut seinem Lebenslauf aus einer strenggläubigen, evangelikalen Familie im Allgäu. Er hatte ein Consulting-Büro an bester Adresse am Ballindamm an der Hamburger Binnenalster, offenbar ohne Mit­ar­bei­te­r:in­nen. Seine edel gestaltete Website vermischt schon auf den ersten Blick in kruder Weise religiös-weltanschauliche und betriebswirtschaftliche Themen. Konkrete Kunden sind kaum zu finden, und wo sie erwähnt sind, legt sein Linkedin-Profil nahe, dass es sich in Wahrheit um Tätigkeiten aus früheren Festanstellungen bei großen Unternehmen handelt. Davor habe er sich während eines Sabbaticals „persönlichen Projekten“ gewidmet, danach als „Investigator“ gearbeitet. Sein Sabbatical hat F. offenbar genutzt, um ein umfängliches Buch zu schreiben: „The Truth About God, Jesus Christ and Satan: A New Reflected View of Epochal Di­men­sions“. Ein wirres, fast 300-seitiges Kompendium, mit dem F. beansprucht, „erstmals die Interaktion zwischen Himmel und Erde“ zu verdeutlichen. Der Schrift liegt offenbar ein strenger und wortwörtlicher Bibelglaube zugrunde, den er mit Floskeln aus dem Managementsprech vermengt.

Den Zeugen Jehovas gehören nach eigener Auskunft in Deutschland rund 170.000 Gläubige an. Sie verstehen sich als christliche Glaubensgemeinschaft, die vor allem durch ihre Missionstätigkeit bekannt ist. Feier- und Geburtstage werden von Angehörigen nicht begangen, Bluttransfusionen abgelehnt. Die Gemeinschaft begleiten von jeher Sektenvorwürfe. In Deutschland erfolgte erst 2017 die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts.