Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Die Angst besiegen
Warnungen vor russischem Raketenbeschuss in Charkiw und Umgebung erweisen sich als unbegründet. Die Region wird ohnehin schon ständig angegriffen.
In der Nacht zum 24. Februar, dem ersten Jahrestag der Invasion, beschießen die Russen nicht das regionale Zentrum, erhöhten dafür aber den Druck im Bezirk Kupjansk in der Region Charkiw erheblich. Nach Angaben des Militärs brauchen die Invasoren Kupjansk, weil es dort ein großes Transport- und Eisenbahnzentrum gibt. Die Besetzung von Kupjansk wird es den Russen ermöglichen, die Versorgung ihrer Truppenkontingente im Donbass zu verbessern, um tiefer auf das Territorium der Ukraine vordringen zu können.
In Charkiw, 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, glaubt fast niemand an die Macht von UN-Resolutionen und Aufrufen an Russland. Jeder versteht ganz genau, dass nur die Streitkräfte der Ukraine die Russen mit Hilfe einheimischer und ausländischer Waffen aufhalten können. Die Russen wollen nicht verhandeln.
Und da geht es auch schon los – im Osten der Ukraine wird nach der im Herbst 2022 durchgeführten Teilmobilisierung eine groß angelegte Offensive russischer Truppen fortgesetzt. Auch die Region Charkiw wird angegriffen. Insbesondere im Kupjansky-Distrikt greifen die Russen seit mehr als einer Woche Stellungen der ukrainischen Truppen an.
Dem Erdboden gleichgemacht
Nach Angaben des Leiters der regionalen Militärverwaltung von Charkiw, Oleg Sinegubow, hat die russische Armee die Siedlung Grjaanikowka vollständig dem Erdboden gleichgemacht, konnte jedoch in diesem Gebiet nicht vordringen. Gleichzeitig setzen die Russen nicht nur gepanzerte Fahrzeuge und Mobilisierte ein, sondern auch eine große Anzahl von Militärflugzeugen. Das hat es seit dem Frühjahr vergangenen Jahres, als die Ukraine eine Luftverteidigung aufbauen konnte, nicht mehr gegeben.
Unterdessen geht die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus den gefährlichen Gebieten der Region Charkiw weiter. In den vergangenen 24 Stunden – in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar – haben russische Flugzeuge fünf Siedlungen in der Region Charkiw bombardiert – Grjanikowka, Kotljarovka, Krochmalnoje, Dwureschnaja und Ogurtsowa.
Darüber hinaus starten die Russen einen Angriff mit MLRS „Tornado-S“ auf die Stadt Ljubotin, die 20 Kilometer westlich von Charkiw liegt. Getroffen wird das Gebäude des Dorfrats im Dorf Dvwuretschnaja, zwei Zivilisten werden von Trümmern begraben. Als die Rettungsaktion beginnt, schießen die Russen zynisch erneut auf dieselbe Stelle.
Granatsplitter durchsieben vier Rettungsfahrzeuge komplett. Darüber hinaus beschießen die Russen von ihrem Territorium aus und ohne die Grenze zu überschreiten, den gesamten Norden der Region mit Artillerie ohne Unterbrechung – die Regionen Tschugujewski, Charkiw und Bogoduchowski. Insgesamt werden am Donnerstag in der Region Charkiw neun Zivilisten verletzt.
Die Rentner*innen Irina und Nikolai, die das ganze Kriegsjahr über in Charkiw verbracht haben und nicht aus dem Stadtteil Sewvernaja Saltiwka evakuiert wurden, werden auch jetzt, am Vorabend der angekündigten russischen Offensive, ihren Wohnort nicht verlassen. In ihrem eigenen Haus versorgen und füttern sie elf von Nachbarn ausgesetzte Tiere.
Nikolai ist sich sicher, dass die Russen an diesem 24. Februar 2023 trotz aller Versuche nicht in der Lage sein werden, die Verteidigung zu durchbrechen und sich Charkiw, wie vor einem Jahr, zu nähern. Er glaubt, dass der wichtigste Sieg darin besteht, dass „wir die Angst besiegen werden“.
Die beiden alten Leute können bereits zwischen Granaten und Raketen unterscheiden, mit denen die Russen Charkiw bombardieren. Das ist wichtig, um dem Angriff zu entkommen. Nikolai und Irina wünschen sich vor allem, dass die Ukraine dieses Jahr gewinnt. Damit ihre drei Enkelkinder, die gezwungen waren, nach Finnland zu gehen, endlich nach Hause zurückkehren.
Aus dem Russischen Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten