Situation für Schulkinder in Berlin: Das Schlimmste ist das Achselzucken

Unser Autor verzweifelt über eine seit 30 Jahren nicht gebaute Schule in Berlin. Zum ersten Mal versteht er, dass manche nicht mehr wählen wollen.

Schulranzen hängen an einer Garderobe, die an einer Wand befestigt ist, die bröckelt

In Berlin ist die Anzahl der Schulen, die nicht gebaut oder nicht saniert werden, sehr hoch Foto: Imago

Jeden Morgen fahre ich auf dem Weg in die taz-Redaktion an einer Baustelle vorbei. Und jeden Morgen schaue ich, ob auf der Baustelle etwas passiert ist. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder das Bauschild ist umgekippt. Oder es steht. Sonst bewegt sich auf der Baustelle nichts. Auf dem Schild steht: Berliner Schulbauoffensive.

Seit Anfang der Neunziger Jahre soll auf der großen Brache eine Grundschule gebaut werden. Kinder, die damals geboren wurden, sind mittlerweile erwachsen, am Sonntag dürfen sie in Berlin wählen. In die geplante Grundschule konnten sie jedoch nicht gehen. Und ihre Kinder? Vielleicht.

Grundschulkinder, die in der Nähe dieser Baustelle leben, müssen ihre Ranzen weiterhin drei Kilometer zur Schule schleppen, mitten in Berlin. „Kurze Beine – kurze Wege“, das ist das selbsternannte Ziel der Schulpolitik. Kurze Beine, lange Gesichter, das trifft es besser.

Weil auf der Baustelle nichts passiert, bin ich mal in die Berliner Archive hinabgestiegen, es wird jetzt sehr lokalzeitungshaft, Achtung: 1992 wird der Bau einer Grundschule beschlossen, auch eine Kita wird geplant. 1997 wird der Schulbau wieder abgesagt. Denn die Schülerzahlen sinken. Und das arme Berlin muss sparen.

Es wird nur noch gehofft

15 Jahre später steigen die Schülerzahlen, 60.000 Schulplätze werden benötigt. Nun will man auf der Brache wieder eine Grundschule bauen. Aber: Auf dem vorgesehenen Grundstück wird nun Wein angebaut, ungenießbarer Berliner Weißwein. Die Grundschule muss deshalb auf der daneben liegenden Brache neu geplant werden.

2016 wird die Berliner Schulbauoffensive mit großem Tamtam vorgestellt. Zunächst heißt es, die neue Schule soll 2022 fertiggestellt werden, dann 2023. Mittlerweile wird nur noch gehofft, auf 2025. Die zuständige Senatorin will sich nicht mehr festlegen. Im Bezirksparlament wird im Oktober die zuständige Stadträtin gefragt: Warum geht es mit dem Bau nicht los? Die Mittel seien nicht freigegeben, antwortet sie. Wenige Tage später teilt ihr Sprecher mit, es habe ein „Informationsdefizit“ gegeben. Die Mittel seien freigegeben, der Bau könne losgehen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Denken Sie sich anstelle jeder Jahreszahl drei Schulklassen, die jeden Morgen an der Brache vorbei zu einer weit entfernten, völlig überfüllten Schule stiefeln.

Verzögerter Schulbau für hunderte Kinder

Das Schlimmste an dieser Lokalposse ist nicht der verzögerte Schulbau für hunderte Kinder, die sich weiter mehrere Jahre durch lebensgefährlichen Verkehr zur Schule trauen müssen. Es ist das Achselzucken, mit dem man es hinnimmt. Starke Gefühle, Wut und Enttäuschung würden ja bedeuten, dass irgendwer überrascht ist. Und eine Grundschule ist kein Flughafen, who cares?

Dieses Achselzucken verbindet die Geschichte von der Grundschule mit dem Flughafen und der verpatzten Wahl, die nun wiederholt werden muss. Man muss es so groß sagen: In Berlin sind selbst die Grundvoraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft – freie und gleiche Wahlen, funktionierende öffentliche Schulen für Alle – nicht mehr erfüllt. Dafür, dass das eine Zäsur ist, ist es ziemlich still.

Vor Kurzem ist etwas Verrücktes passiert: Ich habe einen Bagger gesehen, der Bagger ist sogar gefahren. Der erste Spatenstich sei für Anfang 2023 geplant, hieß es im Herbst. Bald ist Frühling, Pflanzen wachsen am Bauzaun hoch, aber einen Spaten habe ich immer noch nicht gesehen.

Am Sonntag werde ich an dem Bauschild vorbei zu einer anderen Schule gehen, eine, die gerade noch steht, um dort zu wählen. Aber ich kann zum ersten Mal verstehen, dass viele andere einfach zuhause bleiben.

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Kersten Augustin leitet das innenpolitische Ressort der taz. Geboren 1988 in Hamburg. Er studierte in Berlin, Jerusalem und Ramallah und wurde an der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München ausgebildet. 2015 wurde er Redakteur der taz.am wochenende. 2022 wurde er stellvertretender Ressortleiter der neu gegründeten wochentaz und leitete das Politikteam der Wochenzeitung. In der wochentaz schreibt er die Kolumne „Materie“. Seine Recherchen wurden mit dem Otto-Brenner-Preis, dem Langem Atem und dem Wächterpreis der Tagespresse ausgezeichnet.

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