Ortskräfte in Afghanistan: Im Stich gelassen

Die Studentin Anargol Ahmadi half deutschen Archäologen, Reste von zerstörten Buddhastatuen zu bergen. Nun überlässt Deutschland sie ihrem Schicksal.

Eine Lücke in Fels in Form einer Statue

Von den Taliban zerstört. In dieser Lücke im Fels stand früher eine riesige Buddhastatue Foto: Oliver Weiken/dpa

WIEN taz | März 2001, ein Knall in Zen­tralafghanistan im Bamiyan-Tal. Wo kurz zuvor noch die 1.500 Jahre alten Buddha­statuen standen, klaffen heute nur noch zwei Silhouetten in der Felswand. Aber selbst die Fragmente, die nach dem Zerstörungswerk der Taliban übrig geblieben sind, haben noch einen unschätzbaren archäologischen Wert. Sie zu bergen, das wäre eine Voraussetzung, um die gesprengten Statuen – ein Unesco-Weltkulturerbe – irgendwann wiederaufzubauen.

Bamiyan ist eine historische und die touristisch am besten erschlossene Gegend Afghanistans. Bis vor tausend Jahren lebten noch Buddhisten in der Region, heute bevölkern schiitische Angehörige der Volksgruppe der Hasara die grünen Täler und kargen Hänge.

Anargol Ahmadi, Archäologiestudentin aus Bamiyan, ist eine von ihnen. Sie half 2016 und 2017 als Praktikantin mehrere Wochen lang bei der Bergung des archäologischen Schutts der Buddhastatuen. Ahmadis ehemaliger Betreuer und Ausbilder, ein Restaurator beim deutschen Ableger des Internationalen Rats für Denkmalpflege Icomos, kann sich noch gut an sie erinnern, er beschreibt Ahmadi als „tüchtig“ und „gewissenhaft“. Der Deutsche, der anonym bleiben möchte, führte im Auftrag der Unesco in Bamiyan Sicherungs- und Restaurierungsarbeiten durch.

Ahmadi liebte ihren Job, sie genoss das internationale Arbeitsumfeld. „Ich hatte ein gutes Leben“, sagt sie am Telefon gegenüber der taz. Ihre Stimme ist leise, sie klingt resigniert. Wegen des schlechten Internets wird die Verbindung immer wieder unterbrochen. In der iranischen Hauptstadt Teheran, wo sie im Oktober nach einer einjährigen Odyssee infolge der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan provisorisch bei Bekannten unterkam, hat die Regierung zum Zeitpunkt des Telefonats wegen der Proteste in Iran das Internet heruntergefahren.

Die Dreizimmerwohnung, die sich Ahmadi mit elf Menschen teilt, befindet sich nahe der umkämpften Revolutionsstraße in Teheran. Immer wieder ist Ahmadi in den letzten Monaten zwischen die Fronten geraten, hat die wütenden Slogans, das Tränengas und die Schüsse auf Demonstranten miterlebt.

Doch schlimmer als ihre Si­tua­tion in Iran wäre das, was Ahmadi in Afghanistan drohen würde. Als im August 2021 die Taliban die Macht zurückeroberten, änderte sich ihr Leben schlagartig. Ihre ehemaligen Arbeitgeber verließen fluchtartig das Land, sie und viele andere einheimische Mit­ar­bei­te­r:in­nen blieben zurück.

Flucht in die Berge

„Anargol Ahmadi war unter den Taliban aus gleich drei Gründen gefährdet“, sagt Ahmadis ehemaliger Betreuer, „als Frau, als ehemalige Ortskraft einer internationalen Organisation und als Angehörige der Minderheit der Hasara in Bamiyan.“ Die sunnitischen Taliban hassen diese Region wegen deren reicher vorislamischer Geschichte und wegen ihrer heutigen schiitischen Bewohner, die sie als Ketzer betrachten. Wer mit Ausländern zusammengearbeitet hat, und das auch noch als Frau, gilt zudem als Verräterin. Ob als langjährige Mitarbeiterin oder als Praktikantin, spielt dabei keine Rolle.

Ahmadi hat von mehreren Kolleginnen gehört, die seit der Rückkehr der Taliban wegen „Kollaboration“ mit westlichen Organisationen gefoltert und in einigen Fällen getötet wurden. Die Verfolgungen von Andersgläubigen und von vermeintlichen Feinden sind Verbrechen, die heute wieder geschehen, aber nur selten die Außenwelt erreichen. In Bamiyan wurde ausgerechnet jener Talibankommandant neuer Provinzgouverneur, der vor mehr als zwanzig Jahren an der Zerstörung der Buddhastatuen sowie an Massakern gegen Angehörige der Hasara beteiligt war.

Unmittelbar nach der erneuten Machtübernahme der Taliban flüchtete Ahmadi in die Berge und schlief monatelang in einem Zelt. Als es im Winter zu kalt wurde, versteckte sie sich bei einer Familie in einem Bergdorf. Aus Angst aufzufliegen, verließ sie das Haus nicht, bis ihr ein befreundeter Archäologe aus Deutschland eine Geldsumme schickte, mit der es ihr vergangenen Sommer gelang, sich ein Visum für Iran zu besorgen.

Beim deutschen Icomos-Ableger ist Anargol Ahmadi ein bekannter Name. Das liegt vor allem daran, dass sie das Glück hat, in Deutschland einen befreundeten Archäologenkollegen zu haben, der sich für sie einsetzt: David Meier arbeitet selbst nicht bei Icomos, hat die Organisation aber mehrmals kontaktiert, um Ahmadis ehemalige Arbeitgeber auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Dort habe man ihn jedes Mal vertröstet. „Bisher hat sich keiner der Herren mit Ahmadi in Kontakt gesetzt. Das ist für mich ein Armutszeugnis“, sagt Meier.

Intransparenz in Berlin

Ein Mitarbeiter, der bei Icomos Deutschland seit August 2021 die Gesuche ehemaliger Ortskräfte gesammelt und an deutsche Behörden weitergeleitet hat, möchte genauso wie Ahmadis ehemaliger Betreuer nicht namentlich genannt werden. Er sagt, bei einzelnen Ortskräften und deren Familien habe man es geschafft, „mithilfe des Auswärtigen Amts und des Innenministeriums“ eine Aufenthaltszusage zu bekommen. Das seien zwar nicht viele gewesen, „aber immerhin“.

Die Namen von Ortskräften dagegen, die weniger Glück hatten – darunter Praktikanten, aber auch langjährige Mitarbeiter – bleiben auf Listen geparkt, die Icomos und andere Nichtregierungsorganisationen an die Bundesregierung gegeben haben. Was mit den Listen im Detail passiert, ist ungewiss.

„Wir haben keinen Durchblick, wer warum eine Aufenthaltszusage bekommt“, sagt Ahmadis ehemaliger Betreuer. Bei einigen Ortskräften gehe alles ganz schnell, bei anderen bewege sich nichts. Nach welchen Kriterien Entscheidungen getroffen werden, bleibt undurchsichtig. „Wir dürfen die Sachbearbeiter auch nicht kontaktieren“, sagt Ahmadis ehemaliger Betreuer.

Seit August 2021 sei über 40.000 Afghanen eine Aufnahmemöglichkeit in Deutschland in Aussicht gestellt worden, teilt das Innenministerium auf taz-Anfrage mit. „Über 28.000 von diesen Personen sind bereits nach Deutschland eingereist.“

Ähnlich hoch ist aber die geschätzte Zahl der Ortskräfte, die nicht als solche anerkannt oder zwar anerkannt, aber abgelehnt wurden. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl spricht gegenüber der taz von ungefähr 30.000 Personen. Sie sind weiter in Lebensgefahr oder befinden sich in einem Nachbarland Afghanistans in ähnlich prekärer Lage wie Ahmadi.

Neues Aufnahmeprogramm, neue Hürden

Um einem breiteren Personenkreis helfen zu können, ging am 17. Oktober das sogenannte Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan an den Start, in dessen Rahmen aber laut Bundesinnenministerium erst in den kommenden Wochen mit ersten Aufnahmezusagen gerechnet wird. Der Fokus des neuen Programms liegt auf Frauen und Mädchen, die unter den Taliban besonders gefährdet sind.

Als Frau, die am Erhalt der Buddhas mitgewirkt hat, sollte das Programm für Ahmadi wie geschaffen sein. Doch Ahmadi kommt aus zwei Gründen nicht infrage. Zum einen richtet sich das Programm nur an Personen, die sich noch immer in Afghanistan befinden. Pro Asyl bezeichnet dies als „höchst problematisch“, denn gerade diejenigen, die am gefährdetsten gewesen seien, hätten in vielen Fällen schon längst die Flucht in die Nachbarländer ergriffen. Auch der Mitarbeiter, der bei Icomos für Anfragen von Ortskräften zuständig ist, spricht von einem „Widerspruch innerhalb dieses Programms“, das an sich aber Anerkennung verdiene.

Der andere Grund, warum Ahmadi sich selbst überlassen bleibt, ist der Meldeprozess. Denn nicht die gefährdeten Personen selbst, sondern „meldeberechtigte Stellen“, also ausgewählte zivilgesellschaftliche Organisationen, sollen die Daten der betreffenden Personen über ein Onlinetool mit mehr als hundert Fragen an die Bundesregierung weiterleiten. Bestimmt werden die Stellen von der Bundesregierung.

Ahmadis Arbeitgeber ist wohl nicht darunter, doch dazu will man bei Icomos keine Angaben machen. Würde nämlich bekannt, dass eine Organisation mel­de­be­rech­tigt ist, würden deren Postfächer wohl von Hilfsgesuchen geflutet werden. Vor Ort sei bereits ein betrügerischer Markt entstanden, wo eine Vermittlung in das Programm gegen Geld versprochen wird, berichtet der Icomos-Mitarbeiter.

Organisationen, die die Realität vor Ort kennen, fordern deshalb, dass Betroffene sich selbst registrieren können und so endlich eine Handlungsoption haben. Eine Anfrage, wie viele gefährdete Personen von den ausgewählten Stellen bisher gemeldet wurden, ließ die Koordinierungsstelle des Bundesaufnahmeprogramms unbeantwortet.

Die Archäologin Ahmadi muss also andere Wege finden, sich aus ihrer Notlage zu befreien. Eine Bewerbung für ein Stipendium in Deutschland, für das Icomos ein Empfehlungsschreiben verfasst hatte, ließ der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) an Ahmadis mangelnden Deutschkenntnissen scheitern – einer Kompetenz, die sich Afghaninnen zumindest momentan wegen des Schulverbots für Frauen kaum aneignen können.

David Meier sieht in diesen Widersprüchen ein System. „Die dreschen nur Phrasen und verstecken sich hinter kontraproduktiven Regularien.“ Auch Ahmadis ehemaliger Ausbilder wünscht sich, dass es weniger umständlich wäre, frühere Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen. Er kennt noch härtere Fälle: Familien, die sich in Afghanistan eineinhalb Jahre nach der Rückkehr der Taliban noch immer in Kellern versteckt hielten. „Im schlimmsten Fall“, sagt er, „kostet unsere Bürokratie Menschenleben.“

Mitarbeit: Jannis Hagmann

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