Expertin zu Russland-Sanktionen: „Sie beenden den Krieg nicht“
Russland ist ein sehr schwieriges Sanktionsziel, sagt die Forscherin Julia Grauvogel. Maßnahmen wie ein Preisdeckel für russisches Öl seien dennoch nicht zu unterschätzen.
taz: Frau Grauvogel, seit Montag gilt in der EU ein Preisdeckel für den Import von russischem Erdöl. Was bedeutet das für Russland?
Julia Grauvogel: Ziel der Preisobergrenze und auch der Einfuhrbeschränkung ist, die russischen Handelsgewinne aus dem Ölgeschäft deutlich zu reduzieren und dadurch die Finanzierung des Kriegs gegen die Ukraine zu erschweren. Diese Maßnahmen können einen großen Einfluss haben, da die Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf in der Vergangenheit bis zu 45 Prozent des Staatshaushaltes ausmachten.
Ob dies gelingt, hängt auch von der Reaktion von Ländern wie Indien oder China ab, die momentan einen Großteil des russischen Erdöls kaufen. Zwar sollen westliche Reedereien und Banken den Export in Drittländer nur noch ermöglichen, wenn der Preisdeckel eingehalten wird. Doch es bleiben Umgehungsstrategien denkbar.
35, ist Forschungsbeauftragte und Sprecherin des Forschungsteams am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg.
Können Sanktionen den Angriffskrieg von Russland beenden?
Sanktionen wirken grundsätzlich auf drei Arten: Sie können ein Regime zu etwas zwingen, die Handlungsfähigkeit von einem Land einschränken oder eine Signalwirkung haben. Im Fall von Russland ist es nicht gelungen, den Krieg mit Sanktionen zu beenden und das wird auch in Zukunft nicht passieren. Doch der Spielraum Russlands wurde durch die Exportbeschränkungen von Technologien, die fürs Militär wichtig sind – etwa Mikrochips – eingeschränkt. Zudem haben die Sanktionen eine wichtige Signalwirkung auf potenzielle Nachahmer.
Was macht ein Land verletzlich für Sanktionen?
Es gibt eine Reihe relativ gesicherter Faktoren für die Erfolgswahrscheinlichkeit von Sanktionen. Zuerst einmal die wirtschaftliche Asymmetrie. Dann sind Demokratien anfälliger als autoritäre Regime, weil dort die Bevölkerung sehr viel schneller nicht mehr bereit ist, wirtschaftlichen Abschwung mitzutragen, und dann über Wahlen die Herrschenden abstraft.
Kleine Volkswirtschaften sind anfälliger als große und Sanktionen sind erfolgreicher, wenn sie durch große Koalitionen von Staaten oder sogar durch multilaterale Organisationen wie die Vereinten Nationen verhängt werden. Und es hilft auch, wenn die Forderungen klar und eingeschränkt sind: zum Beispiel die Untersuchung eines Massakers und nicht eine umfassende Demokratisierung.
Alles nicht der Fall in Russland …
Genau. Russland ist ein extrem schwieriges Sanktionsziel.
Und doch ist Russland nun offiziell in einer Rezession. Wegen der Sanktionen?
Insgesamt ist es die Folge der Gemengelage aus Sanktionen, Krieg und dem Rückzug westlicher Firmen. Spannend ist, dass die Rezession weniger stark ausgefallen ist, als Leute aufgrund der Sanktionen direkt nach dem Beginn des Angriffskriegs vorhergesagt haben. Die Erwartung an das Instrument waren überhöht, Sanktionen wirken immer nur mittel- bis langfristig.
Welche Sanktionen waren denn schon wirksam?
Die Exportbeschränkungen von Technologien haben sich schon bemerkbar gemacht. So standen zum Beispiel in der russischen Automobilindustrie über längere Zeit die Bänder still, weil es keinen ausreichenden Nachschub diverser Bauteile gab. Und jetzt werden Autos mit fehlenden Teilen, etwa ohne Airbags, produziert. Auch zivile Flugzeuge fliegen mit kaputten Funktionen, da keine Ersatzteile importiert werden können.
Und sonst?
Die EU und die USA haben auch ausländische Devisen eingefroren, immerhin fast 300 Milliarden US-Dollar. Doch da scheint Russland die Situation dank restriktiver Kapitalmarktkontrollen aktuell im Griff zu haben. Von den 1.200 durch die EU sanktionierten Individuen haben sich ein paar schon vorsichtig vom Regime distanziert.
Gibt es überhaupt noch weitere Sanktionsmöglichkeiten?
Ja. Es können noch weitere Banken aus dem internationalen Bankentransfersystem Swift ausgeschlossen werden. Der Preisdeckel für die Ölimporte könnte gesenkt oder ein vollständiges Ölembargo verhängt werden. Und es gibt immer noch Individuen, die zusätzlich auf die Sanktionslisten genommen werden können.
Ist das mehr als Symbolpolitik?
Allein schon die Tatsache, dass innerhalb der EU immer noch sehr kontrovers diskutiert wird, zeigt, dass es noch Maßnahmen von erheblichem wirtschaftlichem Ausmaß gibt, die nicht nur Russland, sondern eben auch einzelne EU-Mitgliedstaaten treffen würden. Wenn das nur noch symbolische Verschärfungen wären, dann gäbe es diese Debatten nicht. Also da ist man noch nicht am Ende der Fahnenstange.
Aber Sanktionen haben auch Nebenwirkungen.
Am schlimmsten sind ganz klar die humanitären Folgen. Diese haben sich beispielsweise bei den Sanktionen gegen die Taliban gezeigt: Die Vermögen der afghanischen Zentralbank wurden eingefroren und davon waren auch humanitäre Ausgaben betroffen. Und bis heute ist es für Hilfsorganisationen schwierig, gepanzerte Fahrzeuge zu importieren, da diese auch für militärische Zwecke verwendet werden könnten.
Gibt es auch in Russland humanitäre Nebenwirkungen?
Ja. Doch es stellt sich die Frage, wo die Grenze zwischen Wirkung und Nebenwirkung liegt. Wenn bei Automobilherstellern die Bänder stillstehen, dann führt das zu mehr Arbeitslosigkeit. Ist das wirklich so gewollt oder ist das schon eine Nebenwirkung? Ich glaube, da befindet man sich sehr stark in der Grauzone, weil die Hoffnung besteht, dass, wenn das Land in eine Rezession rutscht, die Bevölkerung unzufrieden ist und es dadurch mehr Proteste gibt.
Gibt es Beispiele für Proteste, die durch Sanktionen befeuert wurden?
In Simbabwe beispielsweise habe ich selbst Interviews geführt über die Sanktionen der EU und der USA, die diese Anfang der Nullerjahre aufgrund gravierender Menschenrechtsverletzungen bei den Wahlen verhängt hatten. Die Opposition konnte recht erfolgreich argumentieren: „Mit uns an der Macht und mit einer demokratischen Regierung könnten wir wieder stärker in die internationale Gemeinschaft integriert werden, dann könnten wir auch unsere Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen wiederbeleben.“
Und in Russland?
Dort ist die Repression so stark, dass es kaum nennenswerte Proteste gibt, selbst wenn die wirtschaftliche Situation sich verschlechtert. Im Gegenteil: Das Regime appelliert erfolgreich an die Solidarität der Bevölkerung und stellt die Sanktionen als Angriff von außen dar. Als Beweis, dass der Westen schon immer gegen Russland war.
Wir spüren auch hier Nebenwirkungen der Sanktionen: Energie wird teurer, die Inflation steigt. Sind die Kosten der Sanktionen noch tragbar?
Die Sanktionen haben Kosten für die EU, ganz klar. Die sind jedoch nicht höher als umgekehrt. Als die ersten Sanktionen der EU verhängt wurden, standen die Leute in Russland zum Teil vor Bankautomaten, wo sie kein Geld mehr abheben konnten. Das ist ja weit entfernt von unserer Situation, die wir hier haben. Das Schwierige an der Situation ist, dass die Kosten hier mittelfristig steigen werden und man gleichzeitig im Februar und März unrealistische Erwartungen an die Sanktionen geschürt hat, diese könnten den Krieg beenden. Dadurch kann die Bereitschaft sinken, die Sanktionen mitzutragen.
Werden eigentlich immer mehr Sanktionen verhängt?
In den Neunzigern wurden sehr viele, sehr umfassende Sanktionen verhängt – vorher war das wegen der Blockade im Sicherheitsrat nicht möglich. Eine Folge dieser Sanktionseuphorie waren sehr umfassende Sanktionsregime mit zum Teil gravierenden humanitären Folgen. Nachdem 1990 der Irak Kuwait überfallen hatte, wurde ein komplettes Wirtschaftsembargo gegen das Land verhängt, welches massive medizinische Versorgungsprobleme nach sich zog.
Zusammen mit dem Krieg führten die Sanktionen einem starken Anstieg der Säuglings- und Kindersterblichkeit. Nach diesen Erfahrungen setzte eine Sanktionsmüdigkeit ein und es gab eine Fokussierung auf sogenannte „intelligente“ Sanktionen, also Instrumente, die sich gezielt gegen Individuen, einzelne Sektoren oder einzelne Rohstoffe richten. In den letzten Jahren stiegen die Fälle wieder an und es werden zunehmend wieder umfassendere Maßnahmen verhängt.
Zu viele?
Eigentlich nicht. Problematisch finde ich abgesehen von den überhöhten Erwartungen an das Instrument eine oft nicht ausreichende Ausgestaltung. Es werden zum Teil sehr schnell Sanktionen verhängt, ohne Exitstrategie. Aus der Forschung wissen wir jedoch, dass Sanktionen erfolgreicher sind, wenn ein mögliches Ende schon von Anfang an mitgedacht wird. Auch mangelt es oft an einem ausreichenden Plan zur Durchsetzung. In Deutschland etwa wurde deshalb jüngst das Sanktionsdurchsetzungsgesetz beschlossen.
Wie ist das im Fall von Russland?
Schwierig, da die Forderungen sehr umfassend sind. Schaut man auf die Entwicklung seit der Annexion der Krim 2014, fällt auf, dass sich die Ziele der Sanktionen im Verlauf der Zeit verändert haben. Anfangs stand die Rückgabe der Krim im Vordergrund, später wurden die Sanktionen jedoch zunehmend auch mit der Umsetzung der Minsker Abkommen verknüpft. Das hat damit zu tun, dass Sanktionen verschiedene Funktionen erfüllen.
Welche?
Einerseits sind sie ein wichtiges Signal, um völkerrechtliche Normen zu bekräftigen. Gleichzeitig sind Sanktionen auch ein Faustpfand in Verhandlungen. Und je stärker man in die Phase von Verhandlungen kommt, desto klarer wird, dass ein zunächst formuliertes Ziel vielleicht nicht vollumfänglich erreicht werden kann.
Viele Unternehmen ziehen sich ohne Zwang aus sanktionierten Ländern zurück. Diese „freiwilligen Sanktionen“ erfüllen die Funktion als Faustpfand nicht.
Im Fall von Russland war es drastisch. Mittlerweile sind mehr als 1000 Unternehmen freiwillig gegangen. Ich finde das aus normativen Gründen nachvollziehbar. Meist hat es jedoch beschränkte wirtschaftliche Auswirkungen, weil es sich dabei um Konsumgüter handelt. Es ist viel schwieriger, einen Halbleiterchip zu ersetzen, als aus McDonald's das „russische McDonald's“ zu machen. Es hat trotzdem eine Wirkung, weil es zeigt, wie international isoliert Russland ist.
Aktuell werden von vielen Seiten mehr Sanktionen gegen das Regime in Iran gefordert. Können Sanktionen gegen Iran wirksam sein?
In Iran haben Sanktionen in der Vergangenheit durchaus dazu beigetragen, innenpolitischen Druck aufzubauen. Die Sanktionen in Bezug auf das Atomprogramm haben bei der Wiederwahl Rohanis im Jahr 2017 eine große Rolle gespielt. Augenscheinlich ist es ein Land, wo mit Sanktionen Einfluss auf innenpolitische Auseinandersetzungen ausgeübt werden kann.
Also sollte die EU jetzt schnell mehr Sanktionen beschließen?
Die Erfahrungen zeigen, dass es nicht aussichtslos ist. Zudem: Sanktionen werden immer häufiger verhängt. Mittlerweile sind sie dermaßen etabliert als außenpolitisches Instrument, dass es in bestimmten Situationen – ebendieser massiven Repression jetzt in Iran oder dem Angriff auf die Ukraine – einer Legitimation des Verhaltens gleichkäme, keine Sanktionen zu verhängen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin