Debatte um Rente mit 70: Verdienen statt malochen

Das liberale Modell, über die Rente hinaus weiterzuarbeiten, ist besser als die diskutierte Rente mit 70. Die Regierung muss hier standhaft bleiben.

Drei ältere Menschen sitzen, mit dem Rücken zum Betrachter, auf einer Bank

Stillsitzen wollen längst nicht alle, die vorzeitig in Rente gehen Foto: Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa

Für Rent­ne­r:in­nen beginnt das neue Jahr mit einer guten Nachricht: Nicht nur das Ruhegeld steigt – im Westen um rund 3,5 Prozent und im Osten um 4,2 Prozent – ab 1. Januar 2023 entfallen auch die Hinzuverdienstgrenzen für Menschen im vorzeitigen Ruhestand. So hat es das Bundeskabinett Ende August 2022 beschlossen und so tritt es jetzt in Kraft. SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil begründet den Vorstoß damit, dass die Bundesregierung „den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand flexibel“ gestalten möchte – und das dauerhaft für alle Betroffenen, insbesondere für jene Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht bis zum offiziellen Renteneinstiegsalter arbeiten können oder wollen. Bislang war die Summe, die Früh­rent­ne­r:in­nen verdienen durften, ohne dass ihnen der zusätzliche Verdienst auf die Rente angerechnet wurde oder sie dafür Steuern zahlen mussten, gedeckelt. Diese Grenze fällt jetzt komplett weg.

Der Grund für die „Großzügigkeit“ der Ampel erschließt sich sofort: Arbeitskräftemangel. Überall fehlen Fachkräfte, vor allem in der Kinder-, Jugend- und Sozialarbeit, in den Schulen und Kitas, in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, in der Suchtberatung – also überall dort, wo Menschen persönliche Hilfe brauchen. Im Sommer 2021 wurden dem Institut der deutschen Wirtschaft in Köln zufolge bundesweit allein 20.578 sozialpädagogische und 18.279 Pflegefachkräfte gesucht. Aber auch IT-Spezialist:innen und Hand­wer­ke­r:in­nen wie Heizungs- und Kfz-Monteur:innen sowie Kraft­fah­re­r:in­nen fehlen zuhauf.

Was es heißt, wenn die Zahl der Lkw-Fahrer:innen rapide sinkt, erlebt aktuell Großbritannien: Der Güterverkehr funktioniert nicht mehr wie sonst, Lieferketten sind unterbrochen. Das sorgt für leere Warenregale, lange Schlangen an den Tankstellen, stillstehende Fabrikproduktionen. Die britische Regierung versucht Abhilfe zu schaffen, indem sie über gelockerte Einreisebestimmungen ausländische Kraft­fah­re­r:in­nen auf die Insel lockt.

Deutschland setzt auf Vergünstigungen für einheimische Arbeitskräfte, vor allem für jene, die nicht bis zum „bitteren Ende“ malochen wollen. Zwar können manche von ihnen bereits heute schon früher in Rente gehen – so sie mindestens 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben und Abschläge bei ihrer Rente in Kauf nehmen. Um die niedrigere Rente aufzubessern, arbeiten viele Rent­ne­r:in­nen weiter. So wie Guntram Jordan.

Als der heute 69-Jährige vor neun Jahren vorzeitig in Rente ging, bekam er 712 Euro Ruhegeld: 800 Euro Bruttorente minus 11 Prozent Abschlag, weil er mit 60 Jahren in den Ruhestand trat. Aufgrund eines Unfalls ist er schwerbehindert und hätte, so sagt er, nicht einmal bis zu seinem wegen der Beeinträchtigung vorgezogenen Renteneintrittsalter von 63 Jahren so arbeiten können. Jedenfalls nicht so, wie das sein Job als Concierge eines großen Berliner Hotels vorsah: Dreischichtsystem, bis zu zehn Stunden stehen, das fünf bis sechs Mal in der Woche. Dazu stets freundlich und zuvorkommend sein müssen.

Ohne die Behinderung hätte Jordan, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, bis zu einem Alter von 65 Jahren und 7 Monaten arbeiten müssen. Die Geburtsjahrgänge ab 1964 müssen in der Regel arbeiten, bis sie 67 Jahre alt sind – es sei denn, sie nehmen hohe Rentenabschläge in Kauf. Guntram Jordan hat das gemacht, „obwohl meine Rente überhaupt nicht berauschend war und die Abschläge sie noch einmal gesenkt haben. Sonst wäre ich jetzt vermutlich schon tot“, sagt der Mann.

Weil er von so wenig Geld nicht leben konnte, arbeitete er als Rentner weiter. Aber so, wie er es schaffte und wollte: wenige Stunden täglich, höchstens zwei oder drei Tage hintereinander, kein Schichtsystem. Allerdings war der von ihm selbst stark reduzierten Arbeitszeit ohnehin ein gesetzliches Limit gesetzt: die damalige Hinzuverdienstgrenze von höchsten 450 Euro monatlich. Jeder Euro, den er darüber hinaus erarbeitet hätte, wäre ihm von der Rente abgezogen worden. Für Betroffene, die wie Guntram Jordan im Niedriglohnsektor arbeiten – auf dem Bau, in der Pflege, im Einzelhandel – und oft kaputte Knochen oder chronische Krankheiten haben, war dieses Limit eine harte Einschränkung. Dass die jetzt fällt, ist ein positives Signal der Ampel an alle Früh­rent­ne­r:in­nen – Fachkräftemangel hin oder her.

Zwar ist die Hinzuverdienstgrenze in den vergangenen Jahren bereits schrittweise angehoben wurde. Vor der Coronapandemie lag sie bei jährlich 6.300 Euro, jeder darüber hinaus eingenommene Euro wurde mit 40 Prozent besteuert. 2020 wurde der jährliche Freibetrag auf 44.590 Euro erhöht, ab 2021 noch einmal auf 46.060 Euro. Auch diese Lockerung resultierte aus dem Arbeitskräftemangel, der mit den Bildern aus überfüllten Kliniken überdeutlich wurde. Jede medizinische Fachkraft, die nicht an Corona erkrankt war, wurde gebraucht – und aus dem Ruhestand geholt.

Die meisten von ihnen machen das gern – weil sie für ihre Arbeit ohne übermäßige Besteuerung bezahlt werden und keine Renteneinbußen hinnehmen müssen. Das ist ein zukunftsträchtiges Modell für alle Berufsgruppen und alle Frührentner:innen. Menschen, die vorzeitig aus dem Job aussteigen (müssen), sind für den löchrigen Arbeitsmarkt nicht verloren. Im Gegenteil: Eine uneingeschränkte Hinzuverdienstmöglichkeit ist für sie ein klares Signal: Du kannst arbeiten, wenn du willst, es gibt keine bürokratischen Hürden.

Besonders lukrativ ist das für gut verdienende Fachkräfte, aber auch im Niedriglohnbereich lohnt sich das liberale Modell im Zusammenspiel mit dem Mindestlohn. Es ist damit das Gegenteil vom aktuell marktwirtschaftlich diskutierten Renteneintrittsalter mit 70 Jahren. Will die Ampel ihre soziale Verantwortung wahrnehmen, muss sie hier standhaft bleiben.

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Ressortleiterin taz.de / Regie. Zuvor Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es immer wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.

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