Spanisches Kulturgut unter Druck: Ein Herz für Stiere

Dem Ende nah? Einst unangefochtenes nationales Kulturgut, steckt der Stierkampf in Spanien in der Krise. Nur die politische Rechte ist noch dafür.

Ein Teroro und ein Stirn stehen sich in einer Arena gegenüber

Spektakel, Kunstform oder Tierquälerei? Teroro Diego Urdiales und ein Stier in Pamplona, Juli 2022 Foto: Fernando Pigal/imago

Die Bilder von leeren Stierkampfarenen gingen diesen Sommer in Spanien durch die sozialen Netzwerke. Ob im kastilischen Valladolid oder in Aranjuez unweit von Madrid, ja selbst in der wichtigen Arena Vista Alegre im baskischen Bilbao blieben die Ränge während der Sommerfeste meist leer. Und auch Las Ventas in der Hauptstadt vermeldet – jetzt, wo die Pandemiebeschränkungen weggefallen sind – weniger Publikum als in früheren Jahren.

Es ist der einstweilige Höhepunkt einer Entwicklung, die sich bereits vor der Pandemie abzeichnete. Laut spanischem Kulturministerium blieb von 2015 bis 2019 jeder siebte Zuschauer weg. Die Gesamtzahl der Zuschauer sank von 2,7 auf 2,3 Millionen. 20 Prozent derer, die immer noch den Weg in die Arena finden, haben Freikarten, die von Gemeinden und Verbänden verschenkt werden. Gab es 2009 noch 648 Stierkämpfe pro Jahr im Land, sind es 2019 nur noch 349. In diesem Jahr wird die Zahl wohl weiter zurückgehen.

„Es gab schon immer ein Auf und Ab beim Publikum“, sagt Vicente Royuela, Professor für Angewandte Wirtschaft in Barcelona. „Aber bisher war die Zuschauerzahl an die wirtschaftliche Entwicklung gekoppelt“ – das sei nun nicht mehr so, weiß der Wissenschaftler, der den Publikumszuspruch untersucht.

In guten Zeiten gehen mehr in die Arena, gibt es mehr Spektakel. „Etwas völlig Normales, das wir auch in anderen Aktivitäten feststellen“, sagt der Akademiker, der zugleich Stellvertretender Vorsitzender des Verbandes der Vereine der Freunde des Stierkampfes im ostspanischen Katalonien ist.

Eintrittskarten zum Stierkampf seien schließlich nicht billig. Doch jetzt habe sich Wirtschaft und Publikumsandrang „entkoppelt“. Auch nach Eurokrise und Pandemie verzeichneten die Arenen trotz wirtschaftlicher Erholung immer weniger Zulauf.

Mentalitätswandel in Spanien

Laut Umfragen des spanischen Kulturministeriums, das für Stierkampf zuständig ist, sind nur noch 25 Prozent am Stierkampf einigermaßen interessiert. Stark interessiert sind weniger als 3 Millionen der 47 Millionen Spanier.

Royuela macht einen Mentalitätswandel in der Gesellschaft dafür verantwortlich. Das Gefühl, Tiere schützten zu müssen, habe stark zugenommen. Für Befürworter und Gegner sei der Stier zu einer Frage der Identität geworden, die sich mit der politischen Haltung im Allgemeinen vermische. War früher die Begeisterung für den Stierkampf in allen politischen Lagern anzutreffen, hat sich heute fast ausschließlich die politische Rechte und extreme Rechte die Verteidigung des Spektakels auf die Fahne geschrieben.

Neben der Religion, der Einheit Spaniens, der Monarchie und der traditionellen Familie ist für sie der Stierkampf ein Element dessen, was Spanien ausmacht. „Dass der Stierkampf immer mehr mit einer bestimmten Idee von Spanien gleichgesetzt wird, schadet ihm“, ist sich ­Royuela sicher: „Wenn ich auf den Platz gehe und dort ‚Viva España‘ gerufen wird, denk ich: Soll Spanien hochleben, aber bitte außerhalb der Arena.“

Grausamer alter Zopf

Wie stark diese Politisierung mittlerweile fortgeschritten ist, zeigt eine Umfrage, die die Onlinezeitung El Plural veröffentlichte. 46,7 Prozent würden den Stierkampf gerne verbieten, 18,6 Prozent wollen ihn erhalten und 34,7 Prozent sind nicht für den Stierkampf, aber auch nicht für ein Verbot. Und während bei den Linksalternativen Unidas Podemos knapp 81,8 und bei den Sozialisten 66,5 Prozent für ein Verbot sind, treten bei der konservativen Volkspartei 43,2 und bei der rechtsextremen VOX 53,8 Prozent für den Erhalt des Spektakels ein. Unter den jungen Spaniern sind 80 Prozent für die Abschaffung.

„Der Stierkampf ist ein grausamer alter Zopf, der unser Land in Missgunst bringt und der nur dank öffentlicher Gelder überhaupt überlebt“, sagt der Sprecher von Más Madrid, der größten Oppositionspartei im Regionalparlament der Hauptstadtregion Madrid. Er meint damit nicht nur die Freikarten. Allein die Region Madrid, wo die rechte Volkspartei (PP) mit Unterstützung der ultrarechten VOX reagiert, subventionierte in diesem Jahr die Stiere mit 7 Millionen Euro, achtmal so viel wie vor der Pandemie. Über die Hälfte des Geldes kommt direkt den Zuchtbetrieben zugute. Mit dem Rest wird eine Stierkampfschule und das Stierkampfspektakel bezuschusst und die Arena Las Ventas modernisiert.

Solche Hilfen verlangsamen die Tendenz etwas, doch aufzuhalten ist der Niedergang des Stierkampfes wohl kaum. „Es ist einfach nicht zeitgemäß, Stierkampfanhänger zu sein“, sagt Antonio Lorca, der Stierkampfreporter der größten spanischen Tageszeitung, El País. Neben dieser „politischen Korrektheit“, sei das zunehmende Umweltbewusstsein und die Tierschutzmentalität wichtige Faktoren für den Zuschauerschwund.

Die Kunst des Kampfes

Hinzu komme die Verstädterung und das, was Lorca „Gesellschaft der Haustiere“ nennt. „Viele Menschen stehen heute den Tieren näher als ihren Mitmenschen“, ist der Journalist sich sicher. „Es ist genauso ehrenwert, gegen den Stierkampf zu sein wie dafür“, sagt Lorca und fordert Respekt ein.

Gewalt gegen Tiere macht er überall aus. Bei Massentierhaltung ebenso wie bei der massenhaften Kastration und Sterilisierung von Haustieren. „Gewalt ist überall in unserer Gesellschaft, Nachrichten, Filme, Zeichentrickserien“, aber nur im Stierkampf werde das als Problem gesehen, sagt Lorca. Dabei ergötze sich weder das Publikum noch der Torero an der Brutalität. Es gehe vielmehr um die Eleganz, die Kunst des Kampfes an sich.

„Genau deshalb ist der Stierkampf seit 2013 offiziell Kulturerbe Spaniens, aber egal ob Zentralregierung, Regionen oder Gemeinden, niemand erfüllt das Gesetz, das verlangt, dass das Kulturerbe gefördert und unterstützt wird“, versucht er die Politik in die Verantwortung zu nehmen, bevor er – als guter Stierkampfreporter – auf das Spektakel als solches und von den Züchtern über die Betreiber der Arenen bis hin zum Torero auf die Kontexte zu sprechen kommt. „Der Stierkampf selbst ist nicht mehr das, was er einmal war“, sagt Lorca. Alles sei vorhersehbar, die Stiere seien immer weniger wild.

Zurück zum Wilden

„Dabei bleiben die Emotionen auf der Strecke, es wird langweilig“, fügt er hinzu. In einem seiner Artikel spricht Lorca von einer Mafia, die ihre wirtschaftlichen Interessen verteidige, aber nicht die des Spektakels als solchem. Der Stierkampf brauche eine Erneuerung, zurück zum Wilden, Unvorhersehbaren.

„Doch selbst dann werde der Stierkampf nie wieder das sein, was er einmal war. Manche nennen den Stierkampf ‚Fiesta Nacio­nal‘, das ‚nationale Fest‘. So weit gehe ich nicht, aber der Stierkampf ist eines der wichtigsten kulturellen Elemente dieses Landes“, sagt Lorca. Der Kampf mit dem wilden Tier habe andere Kunstformen wie Literatur, Theater und Malerei stark beeinflusst.

Lorca glaubt nicht, dass sich jemals eine spanische Regierung trauen wird, den Stierkampf zu verbieten. „Wir werden vielmehr eine Minderheit sein, wie in Frankreich“, ist er sich sicher. Dort ist der Stierkampf nur im Süden erlaubt.

Arenen werden Kulturzentren

Die Tendenz gehe auch in Spanien dahin, dass nur noch in wenigen Städten, wie Madrid, Sevilla oder Pamplona, Stierkämpfe stattfinden. In Barcelona wurden die beiden Stierkampfarenen längst geschlossen, eine von beiden zum Einkaufszentrum umgebaut. Die andere wird wohl das gleiche Schicksal ereilen. In ganz Katalonien ist der Stierkampf mittlerweile verboten, auf den Balearen finden nur noch ganz selten Kämpfe statt.

Im Mittelmeerort Benidorm wird die Arena zum Kulturzentrum. In Gijón wurde die Arena im März wegen baulicher Mängel geschlossen. Der andere Platz in Asturien, in Oviedo, hat sein 16 Jahren keinen Stier mehr gesehen. Die Arena in Cáceres in Extremadura droht zu zerfallen. Das sind nur einige Beispiele.

„Die Akzeptanz des Stierkampfs war immer zyklisch“, beschwichtigt José Luis Benlloch, Chefredakteur von Aplauso, der letzten Stierkampfzeitschrift, die noch auf Papier erscheint. „Stierkampf ist immer dann weit über die eigentliche Anhängerschaft hinaus populär, wenn es einen revolutionären Torero gibt“, analysiert er. Derzeit gebe es gute Stierkämpfer, aber eben nicht den einen, den besonderen, „den einen Torero, der mit den Normen bricht, über das Klassische, das Althergebrachte hinausgeht“.

Warten auf den Messias

Benlloch glaubt an die Kraft von unten, an die Stierkämpfer, die „fast schon aus dem Lumpenproletariat spontan auftauchen und sich gegen das Establishment durchsetzen“. Dieser Widerspruch zwischen traditioneller Stierkampfanhängerschaft und einem neuen, jungen Torero habe immer wieder den Stierkampf in der gesamten Gesellschaft populär gemacht.

Ein solches Phänomen hätte heute allerdings eine ganz neue Hürde zu nehmen. „Die Fernsehsender haben bis auf wenige regionale Ausnahmen das Thema Stierkampf völlig ausgeblendet“, beschwert sich Benlloch. Er hat einst selbst im Regional-TV in Valencia gearbeitet, bis dort eine Linkskoalition die Wahlen gewann und der Stierkampf immer mehr in Ungnade fiel.

„Doch ich will einfach optimistisch sein“, sagt Lorca. Der Stierkampf habe weit schlimmere Zeiten erlebt. Der Journalist erinnert an die Zeiten, als Könige und Kirche den Stierkampf immer wieder verboten haben und diejenigen, die dennoch auf den Dörfern weitermachten, verfolgt und vom Papst exkommuniziert wurden.

„Wir warten auf den großen Messias, auf eine nicht vorhersehbare Entwicklung, die wieder die breite Aufmerksamkeit auf den Stierkampf lenkt“, betont Lorca dann einmal mehr. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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