Diesjähriger 9. Mai in Russland: Siegesfeier an der Heimatfront

In Russland wandelt sich der Tag des Kriegsendes 1945 zunehmend vom stillen Gedenktag zu einer militärischen Feierlichkeit. Und diesmal?

Viele Soldaten bei einer Militärparade

Moskau, 9. Mai 2021: Militärparade zum Tag des Sieges Foto: Stanislav Krasilnikov/ITAR-TASS/imago

Seit 2005 wird der 9. Mai in Russland mehr und mehr zu einem „Feiertag“, statt wie früher ein Gedenktag zu sein. Damals flogen an diesem Tag erstmals Kampfflugzeuge über den Roten Platz und das Georgsbändchen als Symbol tauchte auf. Ab 2008 waren bei der jährlichen Parade auch schwere Militärfahrzeuge zu sehen. Nach und nach begann das Feiern des Sieges das Gedenken abzulösen. Aus einem freien Tag wurde ein patriotisches Format, das eine klare Stellungnahme und eben das Feiern verlangte, und nicht stilles Gedenken oder gar Trauer.

Als ich noch zur Schule ging, schrieben meine Klassenkameraden und ich Postkarten an die Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs, wie der Zweite Weltkrieg bei uns genannt wird, und brachten sie ihnen nach Hause. Wir überreichten ihnen am 9. Mai Blumen und Süßigkeiten, die wir selbst gekauft hatten.

Für uns war es wichtig, ihnen gegenüber unsere kindliche Dankbarkeit auszudrücken: dass sie die schrecklichen Kriegsjahre überstanden hatten, für ihre Tapferkeit und dafür, dass wir Kinder in Freiheit, ohne fremde Invasoren leben konnten. In meiner Kindheit kamen Veteranen in den Schulunterricht und erzählten von all dem Schrecklichen, das sie erlebt und nie vergessen hatten. Wir Schüler sagten: „Nie wieder“. Und heute bringt man den russischen Schulkindern bei: „Das können wir noch mal machen“.

Neues staatliches Ritual

Die Aktion, die aus der zivilen Initiative „Unsterbliches Regiment“ hervorgegangen ist, hat der Staat den Journalisten, die sie erfunden haben, quasi gestohlen und zu einem neuen staatlichen Ritual gemacht. (Bei der Aktion am 9. Mai tragen die Menschen auf einem Gedenkmarsch Bilder ihrer Angehörigen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben; d. Red.)

An den Paraden nahmen plötzlich auch Staatsbeamte und der russische Präsident teil. Sie wurden zu einer Massenveranstaltung in immer mehr Städten des Landes. Das persönliche Erinnern an den Krieg in der Familie wurde plötzlich öffentlich. Und darüber hinaus begann nun der Staat vorzuschreiben, wie man diese Erinnerungen zu leben, begehen und bewerten habe.

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Jetzt schaue ich mir das alles im Jahr 2022 an: Die Werte, die mir seit meiner Kindheit vertraut waren, sind verschwunden. Dafür gibt es eindeutige Positionen und strahlende Bilder vom „russischen Sieg“ und vom „Kampf gegen den neuen/alten Nazismus“. Heute ist der Tag des militärischen Sieges einer ohne dunkle Seite: Leiden, Gewalt, Tod, Vergewaltigungen und Verlust bleiben außen vor. Und so kann der Staat den schrecklichsten Tag in einen unreflektierten staatlichen Feiertag verwandeln.

Der städtische Raum Moskaus wird nach und nach standardmäßig geschmückt: mit Georgsbändchen und roten Flaggen. In den Souvenirläden gibt es viele Symbole der neuen Kriegszeit mit den Buchstaben, mit denen moderne Soldaten sich und ihre Waffen kennzeichnen.

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Täglich tauchen immer mehr Plakate und Fahnen auf, aber denkt irgendjemand daran, dass das alles gleichzeitig mit den offiziellen Berichten von der aktuellen Kriegsfront einhergeht: mit Kriegsverbrechen, einer riesigen Flüchtlingskrise, den täglichen Nachrichten von getöteten Zivilisten in der Ukraine und Bildern von den zerbombten ukrainischen Städten? Und dass ein Feiertag in diesem unendlichen Leid gar nicht mehr existiert?

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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die Autorin arbeitet als Journalistin in Moskau. Sie war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

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