Russischer Truppenabzug aus Tschernihiw: Wenn Antonina wieder tanzt

Tschernihiw liegt von Russland aus auf dem Weg nach Kiew und wurde wochenlang erfolglos belagert. Nun ist Ruhe eingekehrt. Oder eher: Totenstille.

Eine Frau macht ein Selfie vor einem zerstörten Gebäude

Vor dem zerstörten Hotel Ukraina in Tschernihiw am 6. April Foto: Marko Djurica/reuters

TSCHERNIHIW taz | Vor einer Woche gab es ­zwischen Kiew und Tschernihiw keine Verkehrsver­bin­dung mehr. Zwei Hauptstraßen waren blockiert und Brücken gesprengt. Nun, da die russischen Truppen aus dem Gebiet Tschernihiw abgezogen sind, ist eine dieser Straßen endlich wieder befahrbar, wenn auch nur über eine Pontonbrücke. Und obwohl diese Stelle nur schwer passierbar ist, ist die Strecke schon wieder sehr belebt, der Verkehr staut sich. Die einen haben es eilig, Tschernihiw und die angrenzenden Orte endlich zu verlassen. Die anderen fahren in die Gegenrichtung, um Lebensmittel, Wasser und Medikamente für die zu bringen, die ihre Heimatstadt nicht verlassen wollen.

Tschernihiw, eine Stadt mit fast 300.000 Einwohnern, etwa 150 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew gelegen, war einen Monat belagert und von der Außenwelt abgeschnitten. Die russische Armee hat versucht, die Stadt zu erobern, hat sie mit schwerer Artillerie und Raketen beschossen, Bomben aus der Luft abgeworfen. Hunderte von Gebäuden in der Stadt und der Umgebung sind zerstört. Auf den Feldern um Tschernihiw, die langsam grün werden, kann man viele nicht explodierte russische Raketen sehen, die wie Fremdkörper aus der Erde ragen.

Einrichtungen der zivilen Infrastruktur wurden regelmäßig beschossen, darunter auch Krankenhäuser. Nach den Worten des Leiters der Verwaltung des Gebietes Tschernihiw, Wjatscheslaw Tschaus, gibt es in der ganzen Region kein einziges unzerstörtes Krankenhaus. Im städtischen Krankenhaus von Tschernihiw gibt es seit Anfang März weder Strom und Wasser noch Heizung. An den kritischsten Tagen mussten die Ärzte Patienten im Keller im Licht von Handy-Taschenlampen operieren.

„Die ersten drei Tage waren die schwierigsten. Manchmal kamen auf einen Schlag fünfzig bis sechzig Leute mit schweren Schussverletzungen“, erzählt der medizinische Leiter des Krankenhauses, Waleri Tschobitko. Derweil lag das Krankenhaus selbst unter Beschuss: „Wir haben Holzplatten vor Türen und Fenster gestellt, damit Kugeln und Granatsplitter nicht in die Räume gelangen konnten. Die Generatoren fielen aus, aber trotzdem haben wir unter diesen schwierigen Bedingungen weiter operiert. Den Leuten zu helfen war für uns das Wichtigste.“

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Die 60-jährige Antonina Budnik ist eine der Patientinnen, die Glück hatten. Zumindest teilweise: Nach einer Schussverletzung musste ihr das Bein bis über dem Knie abgenommen werden, sie hat einige Finger verloren und ihr rechtes Auge. Im Krankenhaus wird Antonina liebevoll „unsere Optimistin“ genannt. Schon vom ersten Gesprächsmoment an wird klar, warum. Auf die Frage, was ihr passiert sei, richtet sich Antonina energisch im Bett auf, schiebt die Decke zur Seite und sagt: „Sehen Sie selbst. Ich habe ein Bein verloren.“ Und trotz dem, was ihr passiert ist, erzählt sie mit fröhlicher Stimme ihre Geschichte. Als der Beschuss der Stadt begann, ging sie zusammen mit ihrer alten, kranken Mutter in den Keller hinunter. „Als die Tür zuging, explodierte etwas. Es war, als hätte mich ein Schlag getroffen. Als die Soldaten mich dann später rausgetragen haben, habe ich Witze gemacht. Ich habe zu ihnen gesagt: ‚Jungs, ich bin dick, aber jetzt bin ich ein bisschen leichter‘“, sagt Antonina und lacht.

Splitter im Körper

Vor dem Krieg hat sie als Hausmeisterin gearbeitet. Sie hat vier Kinder und drei Enkel. Sie sagt, dass sie in der ganzen Zeit nur ein einziges Mal geweint habe. Und zwar, als sie drei Tage nach dem Beschuss ihre Kinder angerufen habe, die bis dahin nicht wussten, wo ihre Mutter war, um ihnen zu erzählen, dass sie am Leben sei. „Wenn ich aus dem Krankenhaus komme, sehe ich meine Stadt wieder, und unsere Ukraine wird schöner werden als zuvor“, sagt die Frau und fügt hinzu: „Und am Tag des Sieges werde ich tanzen!“

Einer der Chirurgen zeigt ein paar Dutzend kleiner Päckchen, auf denen Namen von Patienten stehen. Darin befinden sich die Splitter, die sie den Menschen während der Operationen aus dem Körper geholt haben. Es gibt große und kleine, rostige und sehr spitze. „Und das ist von einer Streubombe“, sagt der Arzt und zeigt eins der Pakete mit dem Namen Chruscht.

Der Patient Taras Chruscht ist immer noch hier im Krankenhaus. Der Mann hat Verletzungen an Hals und Oberkörper, auch seine Lunge war betroffen. „Das ist am 17. März passiert. Ich war auf einer Straße im Zentrum unterwegs, als ich unter Beschuss geriet. Aber ich hatte Glück, dass man mich sofort ins Krankenhaus gebracht hat. An dem Tag wurden aus unserem Stadtteil Frauen und Kinder evakuiert, nur eine Stunde später begann der Beschuss. Hinterher habe ich erfahren, dass es Streubomben waren“, erzählt der Mann. Er weiß nicht genau, wie viele Menschen dabei ums Leben kamen, aber ein Bekannter von ihm habe durchs Fenster gesehen, dass hinterher um die fünfzehn Menschen auf der Erde lagen und sich nicht mehr bewegt haben.

Die Ärzte im Krankenhaus sagen, dass Menschen mit Schussverletzungen bei ihnen eingeliefert wurden, die einfach zufällig die Straße entlanggegangen waren oder für Brot oder Wasser angestanden hatten. „Sie haben absichtlich auf Menschenansammlungen gezielt“, erklärt Krankenhausleiter Waleri Tschobitko.

Eine surreale Szene

Im Lauf des März sind einige Dörfer in der Region komplett vom Erdboden verschwunden, in Tschernihiw selbst fielen mehrgeschossige Wohnhäuser russischen Bomben zum Opfer. Neben einem dieser zum Teil verbrannten Blocks gräbt eine Frau gerade die Beete neben einer Hecke um. „Jetzt ist dafür genau die richtige Zeit“, erklärt sie diese surreal anmutende Szene: Inmitten totaler Zerstörung steht eine Frau und lockert die Erde auf.

Die 67-jährige Nadeshda hat ihr ganzes Leben in diesem nun zerstörten Haus verbracht. Ihre Wohnung ist heil geblieben, aber sie kann dort nicht hinein, weil die darüberliegenden Etagen eingestürzt sind und die heruntergefallenen Platten den Hauseingang blockieren. „Ich weine Tag und Nacht. Ich will wieder nach Hause. Jetzt wohne ich schon seit Wochen bei fremden Leuten, die mich aufgenommen haben. So viel Schreckliches habe ich noch nie erlebt. Das alles ist nachts um vier Uhr passiert. Nur mit Glück haben wir es noch im Nachthemd auf die Straße geschafft. An diesem Morgen sind meine Haare grau geworden“, sagt sie, nimmt ihre Mütze ab und zeigt ihre weißen Haare.

Um mit dem Weinen aufzuhören, während sie von ihrem Unglück erzählt, wendet sich die Frau wieder ihrer Arbeit zu und sagt: „Das ist mein Garten, hier habe ich vor drei Jahren sechzig verschiedene Rosenarten gepflanzt. Sie müssen in diesem Jahr blühen, trotz alledem.“

Doch auch die sinnlosesten und grausamsten Bombardements von Tschernihiw und seiner Umgebung konnten den Geist der Einwohner nicht brechen. Das erzählen hier alle. „Tschernihiw war die Festung auf dem Weg der Russen nach Kiew“, erzählt der Rentner Wassili überzeugt, während er in der Schlange nach Wasser ansteht. Noch immer ist die Wasserversorgung ein Problem.

Wjatscheslaw Tschaus, Gebietschef von Tschernihiw

„Wir werden noch viele weitere Leichen finden“

Das Hotel Ukraina im Stadtzentrum von Tschernihiw war immer ein Wahrzeichen der Stadt. Am 12. März nachts um drei hat die russische Armee eine Bombe darauf geworfen. Es wurde vollständig zerstört. „Das Hotel Ukraina gibt es nicht mehr – aber die Ukraine“, kommentierte der Gebietschef von Tschernihiw, Wjatscheslaw Tschaus. Und ergänzt, dass sich laut russischer Propaganda angeblich ausländische Söldner in dem Hotel aufgehalten hätten, die an der Seite der Ukrainer kämpfen wollten.

In Wirklichkeit gab es dort weder Kämpfer noch andere Menschen, weshalb auch niemand zu Schaden kam. Tschaus kann die genaue Zahl der Opfer unter der städtischen Bevölkerung noch nicht nennen, nach vorläufigen Schätzungen geht er von bislang dreihundert Toten und mehr als tausend verwundeten Zivilisten in der gesamten Region Tschernihiw aus. „Ich kann nicht genau sagen, warum wir noch nicht angefangen haben, die Wohnhäuser zu durchsuchen. Aber ich schätze, wenn wir anfangen, die Trümmer wegzuräumen, werden wir noch viele weitere Leichen finden“ sagt er.

Tschaus ist davon überzeugt, dass die russische Armee auch im Gebiet Tschernihiw Kriegsverbrechen begangen hat, wie sie jetzt schon aus Butscha und anderen Städten im Großraum Kiew bekannt wurden. „Das weiß ich genau. Am stärksten haben die Dörfer und kleinen Städte in unserer Region gelitten. Dort waren russische Soldaten und Kriegsgerät. Direkt auf den Höfen der Menschen. Sie haben die Bewohner aus den Häusern vertrieben und sich selbst dort einquartiert. Die Menschen mussten in den Kellern leben. Einige Fälle von Folter und gewaltsamen Tötungen von Zivilisten wurden bereits registriert“, so Tschaus.

Weil während der Blockade alle Kommunikationsverbindungen zwischen den einzelnen Siedlungen unterbrochen waren, wurde die Dokumentation von Kriegsverbrechen erst nach dem Abzug der russischen Truppen aus dem Gebiet möglich. Und obwohl seit einigen Tagen in Tschernihiw und dem umliegenden Gebiet absolute Ruhe herrscht, ist der Krieg hier noch nicht vorbei. Mehrmals am Tag heulen die Alarmsirenen, und die Leute müssen wieder in die Keller.

Und doch sind die Menschen in der Region zuversichtlich, dass die russischen Truppen nach einer so vernichtenden Niederlage wie hier vor Tschernihiw nicht noch einmal zurückkommen werden.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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