EU nimmt Menschen aus der Ukraine auf: „Ein Paradigmenwechsel“

Im Eiltempo beschließen die EU-Innenminister, Ukrai­ne­r:in­nen unbürokratisch Zuflucht zu gewähren. Doch die neue Humanität gilt nicht allen.

Frauen und Kinder mit Rollkoffern gehen eine Straße entlang

Bereits eine Million Menschen geflohen: Ukrai­ne­r:in­nen an der polnischen Grenze in Medyka Foto: Kay Nietfeld/dpa

BERLIN taz | Die EU wird Flüchtlingen aus der Ukraine Zuflucht gewähren. Darauf einigten sich die Innenminister der Mitgliedstaaten am Donnerstag in Brüssel. Vor allem für ukrainische Staatsangehörige wird ein Schutzmechanismus aktiviert, mit dem diese ohne Asylantrag aufgenommen werden.

Die Rechtsgrundlage hierfür ist eine bisher noch nie genutzte Richtlinie aus dem Jahr 2001, die nach den Balkankriegen geschaffen worden war. Die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sprach von einer „historischen, einstimmigen Entscheidung.“ Auf Twitter schrieb sie: „Die EU steht geeint, um Leben zu retten.“ Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte, es sei sehr gut, dass auch Länder, die bislang wenig bereit zur Flüchtlingsaufnahme waren, den Beschluss mitgetragen hätten. „Das ist ein Paradigmenwechsel, der gut ist, und ich hoffe, dass diese Humanität beibehalten wird.“

Doch die neue Humanität gilt nicht für alle. Im Entwurf der Kommission war ursprünglich vorgesehen, die unbürokratische Aufnahme für alle Menschen gelten zu lassen, die aus der Ukraine kommen. Doch für Angehörige von Drittstaaten, die bei Ausbruch des Krieges in der Ukraine lebten, wird dies nun nicht gelten.

Österreichs Innenminister Gerhard Karner hatte gesagt, sein Land habe wie Polen, die Slowakei und Ungarn Bedenken, solchen Menschen gleichwertigen Schutz zu gewähren. „Wir brauchen rasche, unbürokratische Hilfe für ukrainische Kriegsflüchtlinge“, so Karner. „Da hilft es nicht, wenn wir Drittstaatsangehörige mit einbeziehen.“

Nun sollen die Dritt­staat­le­r:in­nen nach Ankunft auf EU-Gebiet in ihre Heimatländer gebracht werden. Dazu stehen laut Johansson die Behörden mit den jeweiligen Ländern in Kontakt.

Eine Million Menschen auf der Flucht

Was aber geschieht mit jenen, die nicht in ihre Herkunftsländer zurück können? Dem Vernehmen nach sollen die EU-Mitgliedstaaten für diese Personengruppe entweder die gleiche Regelung wie für Ukrai­ne­r:in­nen – also Aufnahme ohne Asylverfahren – anwenden, oder eine eigene Regelung erlassen. Das würde in der Praxis bedeuten, dass diese einen regulären Asylantrag stellen könnten.

Nach dem Treffen veröffentlichte das Bundesinnenministerium ein Dokument zur Umsetzung des Beschlusses in Deutschland. Darin heißt es, die Menschen könnten eine Aufenthaltserlaubnis von 1 bis 3 Jahren erhalten, ihnen werde Krankenversicherung und eine Unterkunft gestellt. Sie bekämen Sozialleistungen, Zugang zum Arbeitsmarkt „gemäß nationaler Arbeitsmarktpolitik“, gewährt werde ebenfalls das Recht auf Bildung und Schulbesuch.

Nach Angaben der UN sind in den sieben Tagen seit Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine eine Million Menschen in die Nachbarländer geflohen. Die meisten Menschen haben sich in Polen in Sicherheit gebracht, wo nach Angaben des Grenzschutzes bis zum Donnerstag 575.100 Kriegsflüchtlinge angekommen sind. In Rumänien sind mehr als 139.000 Flüchtlinge aus der Ukraine angekommen. In Deutschland zählte das Innenministerium zuletzt gut 9.400 Flüchtlinge aus der Ukraine. Die UN rechnet mit weiter stark ansteigenden Zahlen. Eine Umverteilung der Menschen innerhalb der EU ist bisher nicht geplant.

Laut einer Umfrage des ARD-Deutschlandtrends vom Donnerstag finden 91 Prozent der Befragten die Aufnahme vom Flüchtlingen aus der Ukraine richtig, nur 5 Prozent finden sie falsch.

Reem Alabali-Radovan (SPD), die Beauftragte der Bundesregierung für Flüchtlinge und Integration, forderte einen „schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt und zu den Integrationskursen.“

Sonderregelung für Jü­d:in­nen

Jü­d*innen aus der Ukraine sollen aufgrund des Kriegs unter erleichterten Bedingungen in die Bundesrepublik kommen können. Das berichtete am Donnerstag die Welt. Der Zugang zu dem 1991 als „Geste der Versöhnung“ geschaffenen Status der „jüdischen Kontingentflüchtlinge“ für Zuwanderer aus den UdSSR-Nachfolgestaaten wird vereinfacht.

Dem Bericht zufolge ging die Initiative dafür von den Grünen aus – für die Partei ein „Ausdruck unserer politischen und historischen Verantwortung“. Aus dem Bundesinnenministerium hieß es, es stehe dazu in engen Austausch mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland.

„Ziel ist, dass Menschen jüdischer Abstammung und Religionszugehörigkeit aus der Ukraine in Deutschland unter erleichterten Bedingungen und unter Beteiligung der jüdischen Gemeinden an dem Verfahren der jüdischen Zuwanderung teilnehmen können“, sagte ein Sprecher. „Grund für die Erleichterungen sind die kriegsbedingte Aussetzung des regulären Verfahrens über die Botschaft in Kiew, die humanitäre Lage in der Ukraine sowie Deutschlands historische Verantwortung.“

Derweil halten Berichte darüber an, dass nicht-weiße Flüchtlinge an der Flucht gehindert werden. In sozialen Medien machten Videos mit Szenen an der polnisch-ukrainischen Grenze die Runde, die nicht nur in Afrika für Empörung sorgten. Afrikanische Flüchtlinge berichteten, auf ukrainischer Seite tagelang in bitterer Kälte und ohne Versorgung von Grenzbeamten rüde am Passieren der Grenze gehindert worden zu sein, während weiße Flüchtlinge sie passieren konnten. Die Vorwürfe bezogen sich zum Teil auch auf die Abfertigung durch den polnischen Grenzschutz.

Diskriminierung afrikanischer Flüchtender

Der Kongolese Jean-Jacques Kabeya berichtete der Agentur AFP, am Kontrollpunkt Schegyni an der Grenze zu Polen nicht durchgelassen worden zu sein. 36 Stunden habe er vergeblich darauf gewartet, nach Polen durchgelassen zu werden, sagt Kabeya. Schließlich kehrte er zurück zum 70 Kilometer entfernten Bahnhof in Lemberg, wo er sich einer Gruppe von Landsleuten anschloss.

„Es ist eine Katastrophe“, sagt der Student. Einen Ausweg aus dem Krieg hat er immer noch nicht gefunden. Kabeya studierte Pharmazie in Charkiw im Osten des Landes. Als die russischen Angriffe begannen, floh er nach Westen. Auch andere Studierende aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten berichten der Nachrichtenagentur AFP ebenfalls von rassistischer Diskriminierung auf der Flucht. Etwa 16.000 afrikanische Studierende leben nach Angaben der südafrikanischen Botschaft dort.

Das UN-Flüchtlinhshilfswerk UNHCR kritisierte dies scharf: „Da die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Ukraine fliehen, stündlich steigt, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Aufnahmeländer weiterhin alle Menschen aufnehmen, die vor Konflikten und Unsicherheit fliehen – ungeachtet ihrer Nationalität und Rasse,“ schrieb die Organisation auf Twitter. Eine Online-Petition auf dem Portal Change.org fordert die sichere Aufnahme von BiPoC-Personen, die vor dem Krieg fliehen.

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