Andrea Arnold über ihren Film „Cow“: „Selbst ihr Atem erscheint wuchtig“

Die Regisseurin Andrea Arnold hat vier Jahre lang eine Milchkuh begleitet. Ihr Film „Cow“ will die Persönlichkeit seiner Protagonistin zeigen.

Die Kuh Luma blickt in die Kamera, um sie herum ist es stockdunkel.

Der Film „Cow“ folgt oft dem Kopf und den Augen seiner Protagonistin Luma Foto: Mubi

Wie sieht der Alltag einer Milchkuh aus? Der Dokumentarfilm „Cow“ von Andrea Arnold zeigt ihn aus der Perspektive der Kuh Luma, die Kamera begleitet sie auf Augenhöhe, im Stall des Familienbetriebs und auf der Wiese, beim Melken und der Geburt ihres Kalbes. Zugleich nüchtern und empathisch, kommt die britische Filmemacherin in ihrem Porträt über das harte Leben von Nutztieren ganz ohne Kommentar aus und wirft Fragen über das Bewusstsein von Tieren auf.

taz am wochenende: Frau Arnold, Sie haben Ihren Film „Cow“ als mehr als einen Dokumentarfilm bezeichnet. Was meinten Sie damit?

Andrea Arnold: Bei der Weltpremiere in Cannes sagte ich etwas beiläufig, dass ich „Cow“ nicht für einen Dokumentarfilm halte. Im Nachhinein glaube ich, das war eher eine Frage, die ich mir selbst stellte. Ich weiß nicht genau, wie ich es nennen soll, was ich da gemacht habe. Ich bin einer Kuh namens Luma gefolgt, habe sie beobachtet und das Geschehen auf sehr sachliche Art und Weise aufgezeichnet. In diesem Sinn ist es also ein Dokumentarfilm. Aber irgendwie geht „Cow“ darüber hinaus und manchmal haben wir begrenzte Möglichkeiten, Dinge zu benennen. Und vielleicht müssen wir ja nicht alles etikettieren.

Die Dreharbeiten zogen sich mit Unterbrechungen über einen Zeitraum von vier Jahren. Wie sah das konkret aus?

Andrea Arnold wurde 1961 in Dartford, Kent geboren. Sie begann ihre Karriere als Darstellerin und Moderatorin britischer TV-Kinderserien. Ihre Spielfilme „Red Road“ (2006), „Fish Tank“ (2009) und „American Honey“ (2016) liefen alle im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes.

Zunächst hatte ich nur die Idee, etwas über Viehzucht zu machen, und ich wusste nicht, wie ich es umsetzen kann. Das ist meine Art des Filmemachens: ich entwickle und entdecke Dinge erst im Laufe der Zeit, es ist ein Prozess. Der Grundgedanke war diesmal: Wenn ich ein Tier lange genug beobachte, kann ich seine Persönlichkeit und sein Empfindungsvermögen sichtbar machen, sein Innenleben? Kann ich das Unsichtbare zum Vorschein bringen?

Was hat Sie daran interessiert?

Zu der Zeit las ich den irischen Dichter John O’Donohue, der von der unsichtbaren Schönheit in uns schrieb, dem Denken, den Gefühlen und dem Willen. Und ich wollte herausfinden, ob ich das auch bei einem Tier sehen kann, in diesem Fall einer Milchkuh. Als wir dann mit den Dreharbeiten begannen, wurde mir schnell klar, dass sich die Kamera vor allem auf den Kopf und die Augen fokussieren muss. Es war eine erstaunliche Erfahrung: sobald man beginnt, die Augen eines Tieres zu beobachten, beginnt man sich zu fragen, was es denkt und fühlt. Man fängt an, Tiere anders wahrzunehmen.

Die Kamera ist meist ganz nah an Luma, folgt ihr überall hin. Wie hat das rein praktisch funktioniert?

Mit einer ganz kleinen Crew, viel Geduld und Kompromissen. Ich wollte zunächst analog auf Film drehen und wir haben tatsächlich damit experimentiert, aber ich musste die Idee bald aufgeben, es war in vielen Situationen nur mit einer kleinen Digitalkamera machbar. Wir haben dabei kaum künstliches Licht benutzt, nur manchmal mussten wir ein bisschen nachhelfen, um etwa nachts auf den Feldern etwas sehen zu können. Da halte ich dann selbst den Scheinwerfer in der Hand, während die Motten um meinen Kopf schwirren, man sieht dann auch im Film, wie sich das Licht bewegt, weil ich versuche, sie zu verscheuchen.

Der Film hat keinen Kommentar, umso erstaunlicher ist die Tonspur.

Ich habe mit meinem Sounddesigner Nicolas Becker versucht, Lumas Geräusche so aufzunehmen, dass es dreidimensional wirkt, als wäre man mittendrin. Kühe sind sehr große Tiere und die Geräusche, die sie machen, wie das Grunzen und das Muhen, selbst ihr Atem erscheinen wuchtig, man bekommt wirklich ein Gefühl für ihre Größe, wenn man sie hört. Zugleich bekommt man auch all die kleinen Dinge mit, die wirklich schwer einzufangen sind, wie etwa dieses kleine, fast mürrisch klingende Schnauben, wenn sie mit dem Kalb glücklich ist. Ich bin da sehr perfektionistisch, auch bei meinen Spielfilmen, ich will jedes Geräusch vor Ort aufzeichnen. Wenn man es später im Studio nachvertont, klingt es immer steril. Ich halte es mit Bresson: Das Leben ist unnachahmlich. Man kann keinen Moment durch einen anderen ersetzen.

Wie haben Sie Ihre Protagonistin Luma und damit den Bauernhof gefunden?

„Cow“. Regie: Andrea Arnold. Großbritannien 2021, 94 Min. Läuft ab 11. 2. auf Mubi

Zunächst haben wir uns in der Gegend von Essex umgesehen, weil ich einen Ort wollte, der nicht allzu abgelegen ist, sondern auch an Menschen erinnert, mit Zügen und Autos. Fündig geworden sind wir schließlich in Kent, wo wir uns für einen mittelgroßen Bauernhof entschieden haben. Keine niedliche kleine Farm und auch kein riesiger Milchindustriehof, sondern ein Familienbetrieb, dessen Milch in die Supermärkte der Umgebung geliefert wird. Als wir erklärten, was wir vorhatten, waren die Leute gleich sehr offen und entgegenkommend. Sie erwähnten Luma und sagten, sie sei ziemlich temperamentvoll. Da wurde ich gleich hellhörig. Wenn ich das Innenleben und den Willen eines Tieres erkunden will, ist temperamentvoll hilfreich, dachte ich. Das erhöht die Chance, ihren Charakter zu sehen.

Warum glauben Sie, dass Tiere ein Bewusstsein haben?

Ich hatte mein ganzes Leben lang Beziehungen zu Tieren und ich glaube, dass man die Persönlichkeit und Gefühle eines Tieres sehen kann. Aber es gibt natürlich andere Ansichten, viele sprechen Nutztieren so etwas wie ein Bewusstsein ab. Es ist bequemer für uns so zu denken, um sie ohne schlechtes Gewissen so benutzen zu können, wie wir es tun. Auch ich war mir nicht sicher, was wir sichtbar machen könnten. Erst später hörte ich, dass eine Kuh, die einen Namen hat, bis zu 500 Liter mehr Milch pro Jahr gibt. Interessant, nicht wahr? Wenn sie einen Namen hat, bedeutet das wahrscheinlich, dass man mit ihr spricht, und je mehr Zuneigung man ihr entgegenbringt, desto mehr Milch gibt sie. Ich bin keine Wissenschaftlerin, aber ich glaube, alle Lebewesen spüren die Freundlichkeit oder Grausamkeit eines anderen Lebewesens.

Warum haben Tiere oft eine besondere Präsenz in Ihren Filmen?

Tiere und die Natur sind beim Schreiben immer da, sie sind eine Art mich auszudrücken. Ich hatte eine sehr freie Kindheit, meine Mutter war 16 und mein Vater 18, als ich geboren wurde. Ich war schon sehr früh draußen unterwegs, mit drei Jahren. Die Gegend, in der wir wohnten, war eine Art Siedlung, aber es gab viel Wildnis drum herum. Nichts Romantisches, eher eine Art Land, das genutzt und dann verlassen wurde und verwilderte. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt und es hat mich geprägt. Dieses Aufwachsen macht einen großen Teil meiner emotionalen Landschaft aus.

Haben Sie mit „Cow“ Ihr Ziel erreicht, das Innenleben Lumas sichtbar zu machen?

Ich denke, man kann ihre Persönlichkeit sehen, ihre wilde, unsichtbare Schönheit, von der ich vorhin gesprochen habe. Ich glaube sogar, dass sie sich am Ende selbst gesehen fühlte. Sie war sich der Kamera bewusst und spürte, dass wir sie sahen. Das Bewusstsein eines Lebewesens wahrzunehmen ist eine sehr intensive Erfahrung. Nur was Luma in dem Moment denkt, bleibt ein Geheimnis.

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