Tod nach Brechmittelgabe: Keine Tafel für Achidi John

Vor 20 Jahren starb Achidi John in Hamburg, nachdem ihm die Ärzte Brechmittel verabreicht hatten. Eine Entschuldigung gab es nie.

Auf einer Black Lives Matter-Demonstration halten Frauen Schilder mit Namen hoch

Achidi John ist nicht vergessen: Demonstration gegen rassistische Polizeigewalt in Berlin, Juni 2020 Foto: M.Golejewski/AdoraPress

HAMBURG taz | Vor zwanzig Jahren, am 12. Dezember 2001, ist Achidi John auf der Intensivstation der Hamburger Uniklinik gestorben. John hat Drogen verkauft und man hatte ihm ein paar Türen weiter, in der Rechtsmedizin, gewaltsam Brechmittel verabreicht, damit er das mutmaßliche Beweismaterial erbrach. „20. Jahrestag der Ermordung von Bruder Achidi John“ steht auf dem Flyer, der zum Protest vor der Uniklinik aufruft. „Wir haben seine Familie nicht dazu eingeladen“, sagt Daniel Manwire, der Sprecher der Initiative zum Gedenken an Achidi John. „Es ist uns zu peinlich. Wir stehen ja mit leeren Händen da.“

Was heißt es, mit leeren Händen dazustehen? Die Brechmitteleinsätze sind in Hamburg Geschichte, seit diesem Jahr sogar die freiwilligen. Nur: Die erzwungenen hat der Hamburger Senat nicht aus eigenem Willen eingestellt. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat ihn 2006 dazu gezwungen.

„Remember“, sagt Daniel Manwire mit einer Pause zwischen dem „re“ und dem „member“, das sei es, was sie forderten. Ein Erinnern, das darin bestünde, diejenigen, die man aus der Stadtgesellschaft ausgeschlossen hat, aufzunehmen. Tatsächlich gibt es in Hamburg bislang nicht einmal eine Erinnerungstafel an Achidi John, keine Entschuldigung wie etwa in Bremen nach dem Tod von Laye-Alama Condé.

Daniel Manwire kann Passagen aus den Protokollen des Wissenschaftsausschusses auswendig, der am Tag nach dem Tod von Achidi John mit nur einem Tagesordnungspunkt zusammentrat: „Vorfall im Institut für Rechtsmedizin“. Ein SPD-Abgeordneter dankt dem Leiter des Instituts für Rechtsmedizin, Klaus Püschel, für seine „ganze tolle Arbeit“. Ein CDU-Kollege lässt seine „große Solidarität“ an die Ärztin ausrichten, die am Einsatz beteiligt war. Eine Abgeordnete fragt nach, ob man medizinisch darauf hätte eingehen müssen, dass der Dealer rief „I will die“ – „ich werde sterben“. „Das ist etwas, das offenbar in der Mentalität dieser Delinquenten liegt, dass sie so eine Aussage relativ häufig machen“, antwortet ihr Klaus Püschel. „Es ist wirklich überhaupt nichts Besonderes.“

Vielleicht ist es der Moment, hier genauer hinzusehen. Es ist der Moment, in dem der CDU-Abgeordnete Wolfgang Beuß Klaus Püschel noch einmal recht gibt: Er selber kenne diese Szenen von Dealer-Festnahmen in seinem Viertel. Und dann äußert sich noch Kriminaldirektor Thomas Menzel, der als Vertreter der Polizei in den Ausschuss gekommen ist: Im Bericht der Polizei hätten sich zwei solche Zitate gefunden, aber nicht so wie in der Presse zitiert: „I will die“, habe Achidi John schon bei der Festnahme gesagt und während des Brechmitteleinsatzes habe er gesagt: „I want to die.“

Wer kann heute sagen, welches Zitat stimmt? Niemand. Hier ist ein Kriminaldirektor, der glaubt, dass die Presse sich eine eigene Wahrheit schreibt, in der die Zitate der inhaltlichen Stoßrichtung angeschmiegt werden. Der die Frage der Abgeordneten weltfremd findet, weil sie nichts von der alltäglichen Polizeiarbeit auf der Straße wisse. Und vielleicht stimmt das sogar.

„Er sagte,,Ich sterbe' und er hatte recht“, sagt Manwire, der ein gelassener Mensch ist, aber bei den Zitaten verlässt ihn die Gelassenheit. Wäre er selbst nicht zu alt und hinge nicht der akademische Stallgeruch an ihm, würde ihn die Taskforce vermutlich ebenso drangsalieren wie die jungen Schwarzen Männer auf St. Pauli, um die er sich früher als Sozialarbeiter gekümmert hat.

Die Linke fordert eine Entschuldigung

Knapp 20 Jahre nach der Sitzung des Wissenschaftsausschusses, am 20. Oktober 2021, trifft sich die Hamburger Bürgerschaft, um über einen Antrag des Linken-Abgeordneten Deniz Celik zu debattieren. Der Betreff lautet „Verantwortung für die menschenrechtswidrigen Brechmitteleinsätze übernehmen“. Die Linke möchte eine Entschuldigung der Bürgerschaft, eine Entschädigung für die Betroffenen und einen Ort auf dem UKE-Gelände, um an „den Tod von Achidi John und die Leiden der anderen Betroffenen“ zu erinnern.

Zuerst spricht Celik, dann folgt der SPD-Abgeordnete Urs Tabbert. „Das jemand in staatlicher Obhut zu Tode kommt, das kann man bedauern und das kann man hier auch sagen“, erklärt er zu Beginn. Und dann legt er jenen Teil der Wahrheit dar, den er im Antrag der Linken vermisst. Dass 41 Kugeln Kokain und Crack aus dem Magen-Darm-Trakt von Achidi John entfernt wurden. Dass die Exkorporation von Beweismitteln seinerzeit übliche Praxis bei sogenannten Munddealern gewesen sei. Dass der Bund deutscher Kriminalbeamter den Vomizideinsatz für unverzichtbar hielt. Dass die Bürgerschaft bei den Brechmitteleinsätzen nicht zuständig war. Dass für eine Entschädigung die Justiz zuständig sei und für eine Gedenkstätte das UKE als Eigentümerin des Geländes.

Vielleicht sollte man hier erneut pausieren und einen Blick auf das Jahr 2001 werfen. Olaf Scholz war bis zur Wahl im September noch Innensenator in Hamburg und er war es, der den Brechmitteleinsatz in der Stadt einführte. Kritische Stimmen sagen, dass er es tat, um sich innenpolitisch als harter Hund darzustellen – erfolglos, denn im Herbst kamen mit der rechtspopulistischen Schill-Partei noch härtere Hunde an die Macht. Vor ein paar Monaten fragte ein junger Mann Scholz im Fernsehen, ob er es bereue, die Brechmitteleinsätze eingeführt zu haben: „Ich habe es nicht für Folter gehalten“, antwortete Scholz.

In Hamburg hatte die grüne Senatorin Krista Sager den Einsatz durchgewunken

Hätte man es besser wissen können? In Hamburg hatte die grüne Wissenschaftssenatorin Krista Sager den Einsatz durchgewunken. Klaus Püschel stellte ihn im Wissenschaftsausschuss sogar als Erleichterung für die Betroffenen dar: „Wenn ich 40 derartige Kügelchen im Magen habe, würde ich brechen wollen und ich würde das jedem hier auch dringend anraten zu brechen, statt das Risiko ein oder zwei Tage in sich herumzutragen, und zwar ganz klar aus medizinischen Gründen.“

Aber es gab auch Gegenstimmen. Die Hamburger Ärztekammer verabschiedete im Oktober 2001 einen Beschluss, in dem es hieß: „Unter ärztlichen Gesichtspunkten ist die Vergabe von Brechmitteln gegen den Willen des Betroffenen nicht zu vertreten.“ Grund dafür seien „die gesundheitlichen Gefahren“, die die Ärzte in einer „gewaltsamen Verabreichung von Brechmitteln über eine Nasensonde“ sahen. Der damalige Präsident der Kammer, Frank Ulrich Montgomery, heute Präsident des Weltärztebundes, wollte die Resolution sogar noch schärfer formulieren, scheiterte aber am Widerstand derer, die „harte Mittel“ im Kampf gegen das „Drogenproblem“ forderten.

In Hamburg – wie auch andernorts – hat sich kaum jemand für diese Bedenken interessiert. Auch nicht, als sich 20 Anästhesistinnen und Anästhesisten des UKE, die per Dienstanweisung als Unterstützung für den Notfall anwesend sein sollten, an die Ärztekammer wandten. Deren Beschluss lautete: Es dürfe „kein Arzt zu der Beteiligung an derartigen Einsätzen, die allein der Beweismittelsicherung durch die Strafverfolgungsbehörden dienen, gezwungen werden“.

Und doch ging es weiter mit den Brechmitteleinsätzen. Der letzte mit „unmittelbarem Zwang“, so heißt es in der Senatswort auf eine Anfrage der Linken, fand am 27. 3. 2005 statt. Andere Bundesländer wie Berlin oder Niedersachsen hatten die Praxis nach dem Tod von Achidi John ausgesetzt. In Hamburg besuchte der damalige Justizsenator Roger Kusch das UKE, besah sich die Räume der Rechtsmedizin, besuchte auch den im Koma liegenden Achidi John und entschied, „den gewaltsamen Brechmitteleinsatz nur in Anwesenheit eines Narkosearztes zu machen. Unter den Voraussetzungen ist es für mich noch selbstverständlicher als es ohnehin war.“

Kein Ruhmesblatt für den Senat

Welcher Unterschied liegt dazwischen, Unrecht zu begehen, ohne es zu merken, oder es zu begehen und immerhin ein Unbehagen dabei zu haben? Peter Zamory, grüner Abgeordneter in der Hamburger Bürgerschaft und Arzt, hatte ein Unbehagen, und es führt dazu, dass er im Oktober 2021 in der Bürgerschaft sagt: „Ich habe mich damals in der Debatte gegen den zwangsweisen Einsatz von Brechmitteln ausgesprochen. Aber als die Maßnahme implementiert wurde und drogenpolitische Änderungen vom damaligen Koalitionspartner versprochen wurden, bin ich verstummt und das mache ich mir bis heute zum Vorwurf.“ Die Geschichte sei „kein Ruhmesblatt für den damaligen rot-grünen Senat“. Aber auch Zamory will sich Celiks Antrag nicht anschließen – auch weil die Linke nicht versucht habe, ein überparteiliches Bündnis zu schmieden.

Hier könnte wieder die Parteienlogik beginnen, das „Meine Leute, deine Leute“-Prinzip, das dazu geführt hat, so sagen die Nicht-SPD-Leute, dass die SPD die Brechmitteleinsätze nie aufgearbeitet hat, weil sie damit ihren großen Mann Olaf Scholz beschädigt hätte. Aber die Debatte unter den goldenen Leuchtern der Bürgerschaft wird noch einmal grundsätzlich, weil der CDU-Mann Eckard Graage bekennt, Schwierigkeiten mit einem Gedenkort für Achidi John zu haben. „Er ist zu Unrecht zu Tode gekommen“ sagt Graage, aber John sei auch jemand gewesen, der in Kauf genommen habe, dass andere geschädigt werden. Ein Gedenkort für einen Dealer könne für andere problematisch sein, Graage denkt an Eltern von Kindern mit Drogenproblemen. Nach Graages Rede geht Peter Zamory doch noch einmal ans Rednerpult. „Das ist eine sonderbare Wendung der Debatte“, sagt er, „auch Straftäter haben eine Menschenwürde, die geachtet werden muss.“

Ganz unten auf der sozialen Leiter

Von den 530 Straftätern, die in Hamburg Brechmittel erhielten, stammte die überwältigende Mehrheit aus afrikanischen Ländern. Für Peter Zamory sind sie schlicht die Verlierer einer Drogenpolitik, die hauptsächlich auf Repression und Prohibition setze: „Man wollte an ihnen ein Exem­pel statuieren, um abzuschrecken.“ Der Hamburger Kriminologe Sebastian Scheerer spricht vom „Mythos eines schwarzafrikanischen Drogenmonopols“, der in der Schill-Ära entstanden sei: Die Schwarzen Dealer stünden ganz unten auf der sozialen Leiter und deshalb an den exponiertesten Stellen, was die geschütztere weiße Szene in den Hintergrund rücken ließe.

Daniel Manwire erzählt, dass Achidi John drei Minuten leblos auf dem Boden lag, bis man versuchte, ihn zu reanimieren. Die behandelnde Ärztin habe gedacht, er simuliere, bis eine Medizinstudentin sagte: „Er bewegt sich nicht mehr.“ „Do Black lives ­really matter?“, sagt Manwire und es ist keine Frage. Und es ist nicht überraschend, dass die Studentin irritiert war und nicht diejenigen, für die das, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für Folter hält, Teil ihrer Arbeitsbeschreibung war.

Proteste gegen Püschel-Lesung

Was bewegt sich, was bewegt sich nicht? Damals, im Wissenschaftsausschuss, hat ein Abgeordneter gefragt, ob man nicht statt der Brechmittel eine Drogentoilette nutzen könne, mit der die Drogen auf natürliche Weise zum Vorschein kämen. Justizsenator Kusch, der inzwischen sein Glück in der organisierten Sterbehilfe gefunden hat, entgegnete, dass die Brechmitteleinsätze die Menschenwürde möglicherweise besser schützten. Inzwischen sind die Drogentoiletten gängige Praxis.

„Die breite Bevölkerung hat die Brechmitteleinsätze vor 20 Jahren wie heute kaum interessiert“, sagt Peter Zamory. Kürzlich gab es Proteste vor dem freien Theater Kampnagel gegen eine Lesung von Klaus Püschel. Zwei Dutzend Leute waren da, mit einem Plakat „Remember Achidi John“. Kurz zuvor hat das Hamburger Abendblatt den Rechtsmediziner zum Hanseaten des Jahres gekürt.

Aber für Daniel Manwire ist nichts damit gewonnen, einzelne herauszugreifen. Es wäre etwas gewonnen, wenn die jungen Schwarzen eine Arbeitserlaubnis und damit eine Arbeitsmöglichkeit jenseits des Drogenverkaufs hätten. Es wäre etwas gewonnen, wenn er nicht mehr aus seinem Fenster auf St. Pauli guckte und sähe, wie sie vor der Polizei auf die Straße davonlaufen müssen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.