Urteil gegen Tichanowski in Belarus: 18 Jahre Strafkolonie
Sergei Tichanowski, politischer Gegner von Präsident Lukaschenko, wurde zu langer Haftstrafe verurteilt. Olga Deksnis über stürmische Zeiten in Minsk. Folge 111.
A m 14. Dezember hat das Bezirksgericht Gomel den politischen Gefangenen Sergei Tichanowski sowie fünf weitere Personen, die sich im selben Strafverfahren befinden, zu hohen Haftstrafen von insgesamt fast hundert Jahren verurteilt.
Sergei Tichanowski erhielt eine Freiheitsstrafe von 18 Jahren in einer Strafkolonie. Der Blogger Igor Losik und der oppositionelle Youtuber Wladimir Ziganowitsch wurden zu je 15 Jahren verurteilt. Gegen Artjom Sakow und Dmitri Popow, zwei Mitarbeiter Tichanowskis, verhängte das Gericht sechzehnjährige Freiheitsstrafen. Der Vorsitzende der belarussischen Sozialdemokratischen Partei Nikolai Statkewitsch muss für 14 Jahre hinter Gitter.
Außerdem müssen die sechs Angeklagten eine Strafe von umgerechnet 1 Million Dollar für den Schaden zahlen, den sie dem Staat zugefügt haben.
Sergei Tichanowski ist Unternehmer, Oppositioneller und Betreiber des populären Youtube-Kanals „Ein Land zum Leben“. Aktuell hat der Kanal mehr als 300.000 Abonnenten. Zum Zeitpunkt von Tichanowskis Festnahme (im Mai 2020, Anm. d. Redaktion) waren es nur halb so viele. Seit 2019 machte Sergei Tichanowski in ganz Belarus Video-Interviews mit ganz gewöhnlichen Menschen, zeigte ihre Lebensverhältnisse, Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, und verurteilte scharf die Politiker des Landes.
35 Jahre alt, lebt in Minsk und arbeitet bei dem Portal AgroTimes.by. Sie schreibt über besonders verwundbare Gruppen in der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung, LGBT, Geflüchtete etc.
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Wirklich spürbar und „gefährlich“ für die Machthaber wurde er zu dem Zeitpunkt, als er in einem der Videos verkündete, dass er als Präsidentschaftskandidat antreten wolle. Was er aber nicht konnte, denn er wurde vorher festgenommen. Infolgedessen kandidierte statt seiner seine Ehefrau. Laut unabhängiger Stimmenauszählung wurde dann auch ebendiese Swetlana Tichanowskaja vom Volk gewählt.
„Ich werde weiterhin den Menschen verteidigen, den ich liebe und der zum Anführer von Millionen Belarussen wurde“, sagte Swetlana Tichanowskaja nach dem Urteil gegen ihren Mann. „Ich werde versuchen, etwas sehr Schwieriges, vielleicht sogar Unmögliches zu tun, bis der Moment kommt, an dem wir uns in einem neuen Belarus wiedersehen. Ich werde ihm weiter Postkarten und Zeichnungen unserer Kinder schicken, um daraus, wenn wir uns wiedersehen, ein Erinnerungsalbum zu machen.“
„Die Verurteilung Sergei Tichanowskis ist surreal“, kommentiert der (russische) Schriftsteller und Aktivist Anatoli Bataschew. „Einen unschuldigen Menschen, einen Politiker verurteilt man zu 18 Jahren Gefängnis. Die Frage ist, inwieweit ein solcher Urteilsspruch den Geist des sowjetischen Staats atmet. Eine solche Art ‚asiatischer‘ Gerichtsurteile haben wir bei uns in Russland nicht …“
„Urteile mit solchem Strafmaß – das sind Projektionen der Angst der ‚Lukaschisten‘, die Rache für den von ihnen durchlebten Schock“, meint der (russische Medienmanager und) Journalist Dmitri Nawoscha. „Und eine Fortsetzung der von ihnen gewählten Taktik: dass alle so vor Angst zittern, dass sie an Wahlen, Rechte und Freiheit nicht einmal mehr zu denken wagen.“
„Wenn ihr in Belarus über die aktuellen Ereignisse nichts schreiben dürft, dann ruft wenigstens einen ‚Tag der Stille‘ aus“, mahnt (der belarussische Blogger) Anton Motolko. Sein Blog „Motolko pomogi“ (unübersetzbares russisches Wortspiel, bei dem aus dem Nachnamen des Bloggers und dem Verb helfen so etwas wie „Hilf einfach“ wird; Anm. d. Redaktion) wurde erst kürzlich als extremistisch eingestuft: Abonnenten können seitdem zu Haftstrafen verurteilt werden. „Man darf nicht so tun, als ob nichts passiert und als ob die wichtigsten Fragen heute die nach der Wahl der richtigen Kondensmilch oder der Reservierung eines Tisches im Restaurant für eine Silvesterfeier seien.“
Die staatlichen Medien hingegen bejubeln diese Haftstrafen: Jetzt werdet ihr wissen, was passiert, wenn man das Regime wanken lässt.
Gerade hat Lukaschenko das Gesetz „Über Änderungen im Strafgesetzbuch der Republik Belarus“ unterzeichnet. Künftig kann man in Belarus zu Haftstrafen von sechs bis zwölf Jahren verurteilt werden, wenn man Sanktionen fordert.
Mir scheint, dass es bald gefährlich wird, überhaupt Belarusse zu sein. Täglich verlassen mehr und mehr Menschen das Land. Mit Stand 15. Dezember gibt es 920 anerkannte politische Gefangene in Belarus.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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