Urteil gegen IS-Rückkehrerin: Ein erstaunlicher Fall

Die IS-Rückkehrerin Jennifer W. ist in München zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Es war ein ungewöhnlicher Prozess.

Die Angeklagte im Gerichtssaal neben ihrem Verteidiger, hält sich einen Aktenordner vors Gesicht, im Hintergrund drei PolizistInnen

Keine klare Sache: die Angeklage Jennifer W. und ihr Verteidiger Ali Aydin Foto: Sven Hoppe/dpa

MÜNCHEN taz | Es war ein schwieriger Fall, in dem das Oberlandesgericht München unter dem Vorsitzenden Richter Reinhold Baier am Montag zu urteilen hatte. Umso erstaunlicher, dass sich nach Urteilsverkündung alle Beteiligten recht zufrieden gaben. Zehn Jahre Haft, so lautet das Urteil gegen die IS-Rückkehrerin Jennifer W. Die Liste ihrer Taten, die das Gericht als erwiesen betrachtet, ist lang und im negativsten Sinne beeindruckend: Beihilfe zum versuchten Mord, Beihilfe zu versuchten Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Vor allem lastete das Gericht der Angeklagten an, 2015 in Falludscha, Irak, dem Tod eines fünfjährigen Mädchens tatenlos zugesehen zu haben, das ihr Mann und sie gemeinsam mit dessen Mutter als Sklavinnen gehalten hatte. Ihr Mann, der Iraker Taha al-J., habe das Kind an ein Fenstergitter gefesselt und in der sengenden Sonne gelassen, bis es bewusstlos wurde und starb. Die Aktion sollte eine Strafe dafür sein, dass das Mädchen eingenässt hatte. Taha al-J. steht deswegen derzeit in Frankfurt am Main vor Gericht.

Wie W. selbst das Urteil beurteilte, lässt sich nicht sagen. Nachdem die Kameraleute den Saal verlassen hatten, legte sie den Aktenordner ab, hinter dem sie ihr Gesicht verborgen hatte, hörte das Urteil, setzte sich und verfolgte die Urteilsbegründung mit vor sich auf dem Tisch gefalteten Händen weitgehend regungslos – so wie den ganzen, rund zweieinhalb Jahre dauernden Prozess zuvor.

Ihr Anwalt Ali Aydin jedoch ist gut gelaunt. „Ich bin glücklich“, sagt er. Er sieht in dem Urteil eine Klatsche für die Bundesanwaltschaft, die „mit allen Tricks gearbeitet“ habe. Oberstaatsanwältin Claudia Gorf wiederum, Vertreterin ebenjener Behörde, tritt wenig später freudestrahlend aus dem Gerichtsgebäude und sagt, das Gericht sei der Anklage in allen wesentlichen Punkten gefolgt.

Akribie schied aus

Der Prozessbeobachter Saeed Qasim Sulaiman von der NGO Farida, die höhere Aufmerksamkeit auf den Völkermord an den Jesiden lenken will, spricht von einem „historischen Tag“ und hofft, dass noch weitere solche Urteile folgen. Und auch der Reli­gions- und Politikwissenschaftler Michael Blume, der in dem Prozess als Gutachter ausgesagt hatte, zeigte sich froh über das „sehr klare Urteil“. Selten löst ein Gerichtsurteil so viel Zustimmung aus.

Die Angeklagte habe damit rechnen müssen, dass das Kind sich in Lebensgefahr befand. Trotzdem habe sie nichts unternommen

Eine klare Sache war der Fall dagegen nie. Wer will sich schon anmaßen, wirklich sagen zu können, was im Detail vor sechs Jahren in 4.000 Kilometer Entfernung im damals vom IS kontrollierten Falludscha im Hause von Taha al-J. und Jennifer W. passierte? Ermittlungen und Beweisaufnahmen, wie sie bei einer Straftat in Deutschland in höchster Akribie stattfinden und meterweise Aktenordner füllen würden, scheiden aus.

Jennifer W., so viel ist unstrittig, stammt aus dem niedersächsischen Lohne und ist mit 21 zum Islam konvertiert. Auf Facebook nannte sie sich „Märtyrerin“, 2014 entschloss sie sich, nach Syrien zu reisen und sich dem IS anzuschließen. Nach einigen Monaten in zwei syrischen Frauenhäusern und einer ersten Ehe mit einem IS-Angehörigen, die nach wenigen Wochen wieder geschieden wurde, heiratete sie den Iraker Taha al-J. und ging mit ihm nach Falludscha.

Die beiden Sklavinnen waren zu der Zeit schon bei ihrem Mann. Nora T. und ihre Tochter waren Jesidinnen. Ihr Schicksal steht stellvertretend auch für das von mindestens 5.000 Frauen und Mädchen, die versklavt, verkauft und vergewaltigt wurden, wie Richter Baier erinnerte. Und mit ihrer IS-Mitgliedschaft habe Jennifer W. die Vernichtung der jesidischen Religion und die Versklavung des jesidischen Volkes unterstützt.

Worauf sich die Bundesanwaltschaft bei ihren Vorwürfen stützt, sind vor allem Aussagen von Jennifer W. selbst. Nicht gegenüber Polizei oder Gericht, sondern in einem Chat und auch gegenüber einem FBI-Mann, dem sich Jennifer W. 2018 anvertraut hatte – im Glauben, es handele sich um einen Gleichgesinnten, der ihr, die inzwischen wieder in Deutschland lebte, bei der erneuten „Flucht“ zum IS helfen würde. Dazu kommt die Zeugenaussage von Nora T., der Mutter des getöteten Mädchens.

Oder besser des mutmaßlich getöteten Mädchens? Denn tatsächliche Beweise für den Tod des Kindes gibt es nicht. Vor Gericht sagte die Angeklagte aus, das Kind sei nach der brutalen Strafaktion von Taha al-J. in ein Krankenhaus gebracht worden, das es wenige Tage später wieder verlassen habe. Und selbst wenn das Mädchen tot sei, so die Verteidigung, habe man mangels Leiche auch keine Möglichkeit, die tatsächliche Todesursache zu klären. Klingt zynisch, ist aber dennoch ein Argument, dem sich das Gericht stellen musste.

Eine weitere Schwierigkeit war, dass Nora T.s Aussagen sich nicht immer als belastbar erwiesen. Nora T., die in dem Prozess als Nebenklägerin auftrat, ist traumatisiert und wirkte im Zeugenstand immer wieder verwirrt. Dazu kommt, dass sie einen Sprachfehler hat und es bei der Übersetzung öfter zu Missverständnissen kam. Regelmäßig verstrickte die Zeugin sich in Widersprüche. So gab sie an einem Tag an, sie habe im Haus von Jennifer W. und Taha al-J. nie eine Waffe gesehen. Tags darauf sagte sie aus, die Angeklagte habe ständig eine Pistole bei sich getragen und sie ihr sogar an den Kopf gehalten, als sie um ihr totes Kind weinte.

Dass das Gericht dennoch keine Zweifel an der Richtigkeit der Anklagepunkte hatte, begründete Richter Baier damit, dass die Aussage von Nora T. in zwei wesentlichen Punkten mit dem übereinstimmte, was W. vor ihrer Festnahme im Chat und dem FBI-Mann erzählt hatte: dass das Mädchen gestorben und Taha al-J. deshalb vor ein IS-Gericht gestellt worden sei.

Die Angeklagte, so begründete Baier das Urteil weiter, habe damit rechnen müssen, dass das Kind sich in Lebensgefahr befand. Trotzdem habe sie nichts unternommen. Dies wäre allerdings „möglich und zumutbar“ gewesen. Jennifer W. hatte ausgesagt, sie habe sich nicht getraut, das Kind selbst aus seiner Lage zu befreien. Sie habe Angst vor ihrem Ehemann gehabt und befürchtet, von ihm „geschubst oder eingesperrt“ zu werden. Eine Begründung, die das Gericht wenig beeindruckte.

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