Machtoptionen nach der Bundestagswahl: Noch ist alles offen

Der Wahlsieg der SPD heißt noch nicht, dass Scholz auch Kanzler wird. Ob es eine Ampel- oder eine Jamaika-Koalition wird, entscheiden FDP und Grüne.

Die Hände von Olaf Scholz

Intuitiv würde man annehmen, dass es eine Ampel mit Olaf Scholz als Kanzler geben müsste Foto: Florian Gärtner/photothek/imago

Das Einzige, was in dieser Post-Wahl-Situation zählt, sind die Machtoptionen. Ein Hauen und Stechen, ob sich Jamaika oder eine Ampel durchboxt, ist daher ebenso absehbar wie der allseitige und beständige Unwille zur Wiederholung einer Großen Koalition. Wer aber setzt sich nun durch? Intuitiv würde man annehmen, dass es eine Ampel mit Olaf Scholz als Kanzler geben müsste. Haben nicht die Wäh­le­r*in­nen die SPD deutlich zulegen lassen und sie auch noch als Erste über die Ziellinie bugsiert?

Hat nicht die Union deutlich verloren und ging nur als zweiter Sieger vom Platz? Muss man da noch lange nach dem Bürgerwillen oder des Volkes Stimme fragen? Es liegt doch vermeintlich auf der Hand, dass die Sozialdemokraten – ganz die Argumentation von Scholz – am Lenkrad sitzen müssen. Und haben nicht führende Schwarze das schon fast zugestanden, wie es die Formulierung von Alexander Dobrindt nahezulegt, ihm fehle die Fantasie „für eine Regierung unter Führung einer zweitplatzierten Union“?

Oder wie es das Postulat von Michael Kretschmer, die Wahlniederlage einzugestehen und darin alles andere als einen Regierungsauftrag abzuleiten, einfordert? Wer daran glaubt, glaubt auch an den Weihnachtsmann: Was jetzt nur zählt, ist die Frage, wer wen über den Tisch ziehen kann. Für die sich per se als natürliche und geborene Regierungspartei betrachtende Union wäre es äußerst ungewöhnlich, wenn sie bei einem so knappen Rückstand vorschnell aufgäbe.

Und die FDP wäre nicht die FDP, wenn sie nicht mit den Schwarzen zusammen versuchen würde, die Grünen ins Jamaika-Boot zu holen. Dass die Liberalen Jamaika gegen die Ampel aus naheliegenden Gründen präferieren (Stichwort: zwei Parteien, eine Chefin: die Unternehmen), ist ja offensichtlich. Nur wie könnte die FDP – mit der Union im Hintergrund – die Grünen überhaupt dazu verführen, sich mit dem Zweitplatzierten ins Bündnisbett zu legen? Ist das nicht eine vorab schon absurde Vorstellung? Keineswegs.

FDP präferiert Jamaika

Man sieht ja etwa, wie gut die Grünen mit den Schwarzen in Baden-Württemberg können, obwohl es dort sogar zu einer grün geführten Ampel gereicht hätte. Aber auf Bundesebene doch nicht? Oder? Stellen wir uns nur einmal vor, wie die Liberalen jetzt bei den Grünen vorstellig werden und darauf hinweisen, dass es doch nun fürwahr sie beide zusammen in den Händen hätten, eine richtig gute Klimapolitik zu machen.

Ein gemeinsam entworfener, in solchen Zeiten gerne im Hinterzimmer (etwa bei einem nachhaltigen Privatfrühstück) entwickelter grün-liberaler Kernforderungskatalog mit sehr starkem Gewicht auf Klimaschutz scheint in einer solchen Situation nahezuliegen. Und müssten dann die Verantwortlichen bei den Grünen nicht schauen, ob die SPD oder die Union dafür der bessere Partner wäre?

Es spricht viel dafür, dass sich die Grünen auf ein solches Pokerspiel einlassen, das immer verbunden wäre mit den Fragen an die beiden umworbenen Größeren: “Na, wer von euch erfüllt mehr unserer grün-liberalen Postulate? Und wer von euch will unbedingt den nächsten Kanzler stellen?“.

Würde in einem solchen Meistbieterverfahren dann nicht auch die grüne Basis schließlich für Jamaika votieren müssen, wenn Union und FDP über ihre Schatten springen und alle Forderungen der Grünen nach Dekarbonisierung, nach Übererfüllung des Pariser Klimaabkommens etc. noch weit vor den Sozialdemokraten erfüllen würden?

Beide – Union und Liberale – wissen ganz genau, dass sie die Ökopartei nur über einen solchen Köder angeln können. Die Grünen haben genau diese eine Achillesferse: das Versprechen an ihre Wähler*innen, den Klimaschutz an die erste Stelle zu setzen. Es ist kaum vorstellbar, dass Lindner mit Laschet plus Söder die Grünen nicht mit einem entsprechenden Lockgesang zu umgarnen versuchte: „Kommt zu uns, hier winkt das Klimaparadies! Kommt zu uns und Nachhaltigkeit wird unser gemeinsames Mantra!

Rot-rot-grün ist vom Tisch

Kommt zu uns, wir bieten viel, viel mehr Ökologie und Artenschutz als die alte Arbeiterpartei! Kommt zu uns, wir werden das Pariser Klimaabkommen gemeinsam am schnellsten erreichen!“? Könnten die Grünen diesem Sirenengesang widerstehen? Die Sozialdemokraten haben in einer solchen Situation einen strategischen Nachteil. Sie sind nicht so biegsam und dehnbar wie die Schwarzen, sie sind einer skrupelloseren Machtpartei im Lockvogelwettkampf unterlegen.

Sie wollen das Ziel der sozialen Gerechtigkeit nicht um jeden Preis der Ökologie unterwerfen. Und zudem haben sie ihre wichtigste Trumpfkarte verloren: Rot-Grün-Rot steht als mögliche Koalition ohne die FDP nicht mehr als Nötigungs- und Drohpotential zur Verfügung. Die unbedingte Gier der Liberalen mit am Regierungstisch zu sitzen und sie daher mit R2G erpressen zu können, ist nicht mehr instrumentalisierbar.

Was bleibt der SPD in einer solchen Situation übrig? Will sie den moralischen Zeigefinger heben? „Habt ihr, liebe Grüne, nicht im Wahlkampf beteuert, dass ihr ein progressives Bündnis mit uns bevorzugt?“, „Schafft ihr es wirklich, uns zugunsten eines Wahlverlierers einen Korb zu geben?“, „Liebe Basis der Grünen, macht bitte unbedingt Druck, dass eure Führung dieses Versprechen nicht bricht und in ein neoliberales Ehebett steigt!“. Ein solches Vorgehen würde keineswegs funktionieren:

Das weinerliche Verhalten hat in solchen Situationen, wo harte, an Mafiamethoden grenzende Lobbydruckwellen wirksam werden, keine Aussicht auf Erfolg. Es bleibt den Sozialdemokraten gegenwärtig kaum etwas anderes übrig, als im Bieterverfahren mit einzusteigen und den Grünen Klimaschutzangebote vorzulegen, die mit den zu erwartenden Angeboten der Schwarz-Gelben mithalten. Und obendrauf werden dann weitere für die Ökopartei mit sozialem Herzen verführerische Zusagen gemacht:

Die Einführung des 12-Euro-Mindestlohns, die Bürgerversicherung, Maßnahmen gegen Kinder- und Altersarmut usw. Dass die FDP da Sperrfeuer geben wird, ist ebenfalls klar. Des Weiteren kann die SPD die Basis der Grünen motivieren, massiv Druck auszuüben, in der Annahme, dass dort eine deutliche Präferenz für die Ampel besteht. Allzu viel mehr ist gegenwärtig für die SPDler kaum möglich.

Wer sich dabei letztlich durchsetzt, ist ein offener Prozess, der zum jetzigen Zeitpunkt kaum vorhersagbar ist. Die Chancen für Jamaika sind – gerade eines wankenden Laschets wegen – nur deshalb für die offensichtlichen Wahlverlierer überhaupt noch vorhanden, weil die Union zum Zwecke des Machterhalts bereit zu sein scheint, jegliche ökologische Kröte zu schlucken, und für einen robusten Bulldoggenstil bekannter ist als die Sozialdemokraten.

Ob sich die Grünen und die FDP jedoch handelseinig werden – und das scheint der Schlüssel für die Zeit bis zur Regierungsbildung zu sein – oder ob beide wechselweise die Koalitionsverhandlungen für Jamaika und Ampel blockieren und doch die ungeliebte Große Koalition wieder ins Spiel kommt, ist genauso unsicher wie die Frage, ob wir wohl zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte, weil es zu keinen Regierungsmehrheiten gereicht hat, Neuwahlen bekommen werden.

Käme es zu Jamaika oder zur Ampel, hätte das wenigstens den Vorteil, dass Klimaschutz und Ökologie in den nächsten vier Jahren einen sehr hohen Stellenwert bekommen werden.

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lehrt Politik­wissenschaft und -didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Er studierte Soziologie und Politik an der FU Berlin und der New School for Social Research in New York.

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