Menschen stehen auf eiem hügeligen Gelände in der Abendsonne, über ihnen fliegt ein Flugzeug

Foto: Marcus Yam/Polaris/laif

Rettung aus Afghanistan:In der Hölle

Tausende Menschen in Afghanistan haben gehofft, ausfliegen zu können. Viele von ihnen haben für Deutschland gearbeitet, jetzt sitzen sie fest. Vier Protokolle.

27.8.2021, 18:35  Uhr

„Ich hab uns noch nicht aufgegeben“

Die Explosion am Donnerstag konnte ich bis in mein Versteck im Keller hören. Wir sind in einem Haus, vier Kilometer vom Flughafen in Kabul entfernt. Meine Familie versteckt mich hier, weil ich einen deutschen Pass habe. Falls die Taliban mich finden, wäre das mein Ende.

Ich versuche seit sieben Tagen, jemanden beim Auswärtigen Amt zu erreichen. Als Antwort bekomme ich nur eine automatisch generierte Mail. Darin steht, dass die Lage am Flughafen sehr unübersichtlich ist und dass sie alles tun, um uns Deutschen zu helfen.

Ich bin in Kabul geboren. Mit elf Jahren kam ich mit meiner Mutter nach Deutschland. Nach meiner mittleren Reife in Euskirchen habe ich dort eine Baufirma gegründet und bekam die deutsche Staatsangehörigkeit. Nachdem die Taliban in Afghanistan gestürzt wurden, gründete mein Vater in Kabul eine Firma und bat mich um Hilfe. Deshalb bin ich nach Afghanistan. Hier habe ich meine Frau kennengelernt, wir haben drei kleine Töchter.

Ich habe mich nicht getraut, zum Flughafen zu gehen. Ich hätte ja nach Deutschland fliegen können, aber was wäre dann mit meinen Töchtern und meiner Frau? Die haben einen afghanischen Pass und hätten nicht an Bord gedurft. Alles war voll von Taliban, überall kontrollierten sie. Wenn wir ohne Visum in dieses Chaos gegangen wären, hätten wir sterben können.

Ich bin in einem demokratischen Land aufgewachsen. Ich will, dass meine Töchter Folgendes lernen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Unter den Taliban ist das nicht möglich, da sind Frauen nur Menschen zweiter Klasse. Ich bin auch nach Afghanistan gekommen, um etwas zurückzugeben. Die Leute sollen auch hier wissen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Wir Deutschen mit afghanischen Wurzeln haben eine Verantwortung, wir sollten hier im Land helfen. Aber plötzlich wurde hier alles zerstört, was man in 20 Jahren aufgebaut hat.

Eine Strasse in Kabul wird mit zwei Militärfahrzeugen blockiert

„Ich habe mich nicht getraut, zum Flughafen zu gehen, alles war voll von Taliban“ Foto: Stringer/reuters

Dass die Taliban so schnell an die Macht kommen, überraschte mich. Ich hatte das Gefühl, in einem sicheren Schwimmbad zu schwimmen. Auf einmal wirft jemand einen Hai in das Becken. Wenn Deutschland uns bis zum 31. August nicht rausholen kann, dann muss die Bundesregierung wenigstens meiner Familie und mir ein Onlinevisum für Pakistan besorgen, damit wir irgendwie hier wegkommen. Auch wenn das gerade unmöglich scheint.

Ich habe uns noch nicht aufgegeben. Noch geht es uns gut. Hier unten bin ich sicher. Wir können uns zwar draußen nicht frei bewegen, aber wir haben Essen und Trinken, Handys und Strom. Ich hoffe, dass die Taliban uns nicht abhören. Noch haben wir Internet. Das freut mich, ich kann Bundesliga schauen. Ich bin großer Fan des FC Bayern München. Um mein eigenes Leben habe ich keine Angst. Aber meine Töchter sollen in Frieden aufwachsen. Sie können nicht hier bleiben. Ich muss sie hier irgendwie rauskriegen.

Sekandar Noor, 41 Jahre

„Ich weiß nicht, ob ich das Glück nennen soll“

Am 13. August bin ich aus Afghanistan nach Deutschland geflogen. Ich weiß nicht, ob ich das Glück nennen soll. Seit ich 2016 nach Deuschland floh, wohne ich in Bonn. Davor habe ich im Medienzentrum in Masar-i-Scharif gearbeitet, das auch von der Bundeswehr finanziert wurde.

Fast meine ganze Familie hat irgendwas für die Bundeswehr oder die deutschen NGOs gemacht: meine Mutter seit 2014 bei der GIZ als Köchin. Einer meiner Brüder hat bei der Bundeswehr als Dolmetscher gearbeitet. Mein Vater war bis vor kurzem in der afghanischen Armee. Jetzt sitzen meine Eltern und Geschwister zu fünft in einem kleinen Zimmer in Kabul fest. Alle meine Gedanken sind dort, ich rufe zehn Mal am Tag an, schreibe Mails ans Auswärtige Amt, an die GIZ, und erreiche nichts.

Ich bin Mitte Juli nach Masar-i-Scharif gereist, um meine Familie zu besuchen. Die Lage war noch nicht so schlimm, und ich wollte bei ihnen sein und helfen.

Was ich in dem Monat erlebt habe, wünsche ich niemandem. Wir haben die Uniformen meines Vaters und die Dokumente verbrannt. In einer Nacht wurden elf Raketen abgeschossen. Wir sind vor Angst durch die Zimmer gerannt. Sowas kannte ich nur aus Filmen. Meine kleine Schwester weinte die ganze Zeit, sie ist 14. Wir haben es dann geschafft, Flugtickets nach Kabul zu kaufen. Ich hatte von dort meinen normalen Rückflug, für die anderen ging es nicht weiter.

Die GIZ hat meiner Mutter mitgeteilt, dass sie Teil der Ortskräfte ist und da bleiben soll, wo sie ist, bis klar ist, wann sie evakuiert werden kann. Danach hat sie nichts mehr gehört. Lassen sie sie im Stich? Nachbarn aus Masar-i-Scharif haben gesagt, die Taliban seien schon zweimal in unserem Haus gewesen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Mein Bruder hat vor zwei Monaten ein Visum bekommen und ein Flugticket für den 16. August nach Nürnberg. Aber das war der Montag mit dem großen Chaos am Flughafen. Er ist vor Angst wieder nach Hause gegangen. Er wurde mehrmals von der Bundeswehr angerufen, aber er hat es nicht in den Flughafen geschafft, obwohl er es jeden Tag versucht hat. Er hatte dort drinnen keinen Ansprechpartner. Er wurde auf den Kopf geschlagen, hat Pfefferspray in die Augen bekommen, die Taliban haben ihm bei einer Kontrolle auch das Handy abgenommen. Gott sei Dank war er beim Anschlag nicht in der Nähe des Flughafens. Jetzt stehen sie dort alle unter Schock.

Menschen rennen einem Flugzeug der US-Air Force

Chaos auf dem Flugfeld in Kabul am 16.08.2021 – Menschen bestürmen die startende US-Maschine Foto: ap

Ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Ich habe seit Wochen nicht richtig geschlafen, mein Kopf explodiert. Ich bekomme nur automatische Antworten auf meine E-Mails, dass es zu viele Anfragen gibt. Bei den Hotlines habe ich 1.000 Mal anrufen. Ich sehe jeden Tag die Nachrichten vom Termin für den Abzug, vom Ende der Flüge und meine Familie sieht sie auch. Das macht mich einfach verrückt. Qais Z., 27 Jahre

„Als Mann kann ich tagsüber nicht raus“

Mit meiner Frau und meinen drei Kindern habe ich mich in einem Haus im Norden von Kabul versteckt. Acht Jahre lang habe ich für die deutsche Bundeswehr in Masar-i-Scharif als Übersetzer gearbeitet, erst bei den Feldjägern, später für die Objektschutztruppe. Bei der Bundeswehr angestellt war ich von 2007 bis 2015.

Damit entspricht meine Familie den Kriterien für Ortskräfte, die die deutsche Regierung retten wollte. Aber wir werden immer wieder abgewiesen. Ein Mitarbeiter der Bundeswehr sagte mir am Telefon, ich stehe nicht auf der Liste der Ausreiseberechtigten. Ich solle im Iran oder in Pakistan Asyl beantragen. Aber das geht nicht, die Grenzen sind dicht. Deutschland hat uns versprochen zu helfen. Nichts passiert. Ich verstehe das nicht.

Menschen gehen mit Schubkarren und Kindern auf dem Rücken zur Grenze

Viele AfghanInnen machen sich auf den Weg nach Pakistan, um sich in Sicherheit zu bringen Foto: Saeed Ali Achakzai/reuters

Vor drei Wochen haben Männer der Taliban nachts an unsere Tür in Masar-i-Scharif geklopft. Ich habe meine Frau und meine Kinder in einen Bus nach Kabul gesetzt und bin zurück ins Haus, wo ich vom Fernseher bis zu meinen Hausschuhen alles eingesammelt und auf dem Markt verkauft habe. Von diesem Geld leben wir jetzt, es reicht nicht mehr lange. Ich bin dann nach Kabul und mit meiner Familie in einem Safe House des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte untergekommen. Nach 22 Tagen wurde es aus Sicherheitsgründen aufgelöst. Wir mussten ein neues Versteck suchen.

Als Mann kann ich tagsüber nicht raus, es ist zu gefährlich. Die Taliban kontrollieren vor allem Männer. Sie suchen deren Smartphones, um Informationen über sie zu bekommen. Meine 11-jährige Tochter und mein 8-jähriger Sohn kaufen ein. Als Kinder sind sie unauffällig für die Taliban, ich habe trotzdem Angst um sie. Ich habe ihnen gesagt, dass sie mit niemandem sprechen dürfen, nur zum Laden und zurück. Noch gibt es die meisten Lebensmittel, aber sie sind teuer.

Wir sind zuletzt in der Nacht auf Donnerstag zum Flughafen. Das Gate, an dem die Deutschen vorher standen, war zu, keine Soldaten mehr da. Wir haben bis nachmittags gewartet, dann sind wir zurück in unser Versteck gefahren. Da sitzen wir jetzt und wissen nicht, wie es weitergeht.

Es geht uns schlecht, wir sind traumatisiert. Ich kann nicht schlafen, die Gedanken rasen in meinem Kopf. Meine Kinder haben Angst. Meine älteste Tochter hofft, dass ein Schutzengel kommt und uns rettet. Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Mein 8-jähriger Sohn liebt Sport, er macht Gymnastik und ist sehr gut. Er will Profisportler werden. Ich habe Angst, dass er, wenn wir hier bleiben, Terrorist wird, sich dem IS anschließt.

Ich möchte so schnell wie möglich raus, egal wohin. Ich will ein sicheres Zuhause und einen Job, mit dem ich meine Familie ernähren kann. Meine Kinder sollen zur Schule gehen können und eine Zukunft haben. Masoud Azami, 50 Jahre.

„Ich habe Angst“

Gerade hab ich gehört, dass zwei meiner Cousinen von den Taliban entführt wurden. Deswegen habe ich Angst, hier meinen vollen Namen zu sagen. Seit Kabul von den Taliban eingenommen wurde, verstecken wir uns zu Hause.

Meine Familie wohnt am Rand von Kabul, weit weg vom Flughafen. Wir können im Moment nicht nach draußen gehen. Wir haben Angst, weil wir so schlechte Erinnerungen an die letzte Herrschaft der Taliban haben. Wir wissen, wie diese Menschen sind und wie sie sich gegenüber Frauen und Mädchen in Afghanistan verhalten. Nur mein Vater kann nach draußen gehen und uns etwas zu Essen kaufen.

Aber selbst das ist sehr gefährlich. Wir gehören zu den Hasara, einer ethnischen Gruppe, die von den Taliban abgelehnt wird. Mein Vater versucht gerade für meine Mutter, meine Schwester und mich, irgendwoher Burkas zu bekommen. Von meinen Nachbarn und Freunden habe ich gehört, dass die Taliban die Mädchen mitnehmen, die keinen Hidschab oder keine Burka tragen.

Burkas hängen in verschiedenen Blautönen in einem Burka-Geschäft

„Mein Vater versucht gerade für meine Mutter, meine Schwester und für mich Burkas zu bekommen“ Foto: Ton Koene/VWPics/imago

Die Taliban haben viele Menschen aus dem Volk der Hasara getötet, vor allem Hasara-Männer. Ich habe Angst, wenn mein Vater nach draußen geht. Denn wenn sie herausfinden, dass er Hasara ist, wird es sehr schlimm. Aber irgendjemand muss uns ja Essen besorgen. Bald haben wir ein neues Problem: Unser Geld ist fast aufgebraucht. Alles in Kabul hat geschlossen, die Verwaltung, die Büros und auch die Banken. Wir wissen nicht, wie wir an unser Geld kommen sollen.

Ich habe einen Bachelor-Abschluss in Jura, ich habe an der American University of Afghanistan studiert. Nebenbei habe ich angefangen, mit einigen NGOs wie dem Human Rights Network zu arbeiten. Wir setzen uns vor allem für die Rechte von Frauen ein. Dann habe ich für eine NGO gearbeitet, die von einer Deutsch-Afghanin gegründet wurde. Dort habe ich eine Umfrage zur Präsidentschaftswahl 2019 durchgeführt und die Bevölkerung über Demokratie aufgeklärt. Seit die Taliban in Kabul eingefallen sind, bin ich eingesperrt. Niemand weiß, ob die NGOs jemals wieder arbeiten können.

Alle meine Kontakte sagen, dass sich die Taliban nicht geändert haben. Das sind Terroristen. Erst gestern wurde hier in unserer Straße ein Mädchen von den Taliban verprügelt, weil sie die falschen Klamotten trug. Ich glaube, dass die Taliban nur darauf warten, dass die ausländischen Truppen das Land verlassen. Dann werden sie beginnen, sich an der Bevölkerung zu rächen. Vor allem an den Mädchen und Frauen, die für NGOs gearbeitet haben und sich für die Rechte der Frauen einsetzen.

Ich habe einige Ausreiseformulare online ausgefüllt, zum Beispiel für Kanada und Deutschland, aber bis jetzt keine einzige Antwort erhalten. Zum Flughafen fahren wir nicht. Das ist viel zu gefährlich.

Die pakistanische Grenze ist überfüllt. Die Taliban schicken wohl gerade viele Truppen dahin. Ich dachte, das wäre vielleicht ein Weg. Aber auch der scheint hoffnungslos. Zahra J., 26 Jahre

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