Buch über Freiheitsbewegung in Belarus: Tagebuch des Widerstands
Der Band „Stimmen der Hoffnung“ erzählt von der belarussischen Zivilgesellschaft in ihrem Kampf gegen das Lukaschenko-Regime.
Selbst als Agnja Loika auf der kargen, kalten Pritsche im Gefängnis von Schodino liegt, ist ihre Hoffnung noch nicht gänzlich erloschen. Sie und die anderen Oppositionellen in den Nachbarzellen senden sich gegenseitig Klopfsignale. „Schywe Belarus! – Es lebe Belarus!“, bedeutet ein Klopfmuster. „Wir glauben! Wir können! Wir siegen!“, ein weiteres. Es sind Durchhalteparolen, die Loika Mut machen an diesem Ort, an dem Misshandlung und Folter drohen. Auf den Ärmeln ihres Trainingsanzugs steht ein weiterer Slogan: „Never Give Up!“ Drei Worte, die gut wiedergeben, wie die Widerstandsbewegung gegen das belarussische Regime tickt.
Einige Aufzeichnungen, Notizen und Gedichte von Aktivist:innen der belarussischen Freiheitsbewegung und Künstler:innen sind nun in dem Band „Stimmen der Hoffnung“ versammelt, der zum Jahrestag der Wahlfälschungen und der Anfänge der Protestbewegung im Berliner Verlag Das Kulturelle Gedächtnis erschienen ist. Der eindrückliche Bericht von Agnja Loika, die eigentlich Marketingmanagerin ist, ist einer der darin dokumentierten Beiträge.
Prominente literarische Stimmen wie jene von Volha Hapeyeva, Sasha Filipenko und Viktor Martinowitsch stehen neben Beiträgen von zum Teil anonymen Anhänger:innen der Protestbewegung. Die Texte sind zweisprachig abgedruckt (Belarussisch/Russisch – Deutsch), sodass sie vor allem auch den Widerstand im Exil erreichen; die Herausgeberin wurde anonymisiert. Manche Texte sind dabei den Onlineprojekten „August 2020“ und „Stimmen aus Belarus“ entnommen.
„Man hat den Eindruck, ganz Belarus hat im vergangenen August begonnen zu schreiben – und schreibt noch immer. ‚Stimmen der Hoffnung‘ ist wie ein Tagebuch“, sagte der Slawist Heinrich Kirschbaum bei einer Buchvorstellung kürzlich in Berlin, die man im Stream verfolgen konnte.
Stolz auf die Menschen von Minsk
Die Textsammlung liest sich wie ein Nebeneinander von hoffnungsfrohen, euphorischen Texten aus den ersten Tagen der Revolution und erschütternden Berichten, die davon erzählen, wie die Polizei und die Spezialeinheit Omon die Protestierenden niederknüppeln und Inhaftierte foltern.
Alina Lisitzkaja (Hg.): „Stimmen der Hoffnung“. Belarussisch/Russisch – Deutsch, übersetzt von u. a. Thomas Weiler, Beate Rausch, Lydia Nagel. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2021, 224 Seiten, 22 Euro
In einem auf den 11. August 2020 datierten Text schreibt „Tamara“ über ihre Festnahme: „Zuerst waren wir nur Frauen, dann warfen sie auch junge Männer rein – direkt auf den Boden, stapelweise. Die Omon-Typen traten sie und schlugen mit Stöcken. […] Ein Omon-Typ schnappte sich einen jungen Mann mit langen Haaren und fragte ihn, warum er wie ein Weib aussehe. Ein echter Kerl muss glattrasiert sein, schrie er. Dann holte er ein Messer hervor und begann, dem Jungen die Haare abzuschneiden. Dabei schnitt er ihm absichtlich mehrfach ins Gesicht. Und grölte dabei wie ein Tier.“
Auf der anderen Seite ist da aber auch diese bewundernswerte Solidarität der Menschen, die mit den weiß-roten Flaggen und Armbändern und Blumen auf die Straße gingen, die aus diesen Texten spricht.
Eine Schreiberin namens Elsa Anselm findet das Gefühl des Zusammenhalts am besten in dem belarussischen Wort „Hramada“ wieder: „[Hramada] bedeutet Gemeinschaft, aber der Anklang an das russische gromadnyj – gewaltig – verstärkt die Wortbedeutung um ein Vielfaches, selbst auf der Ebene der einzelnen Laute. Hramada – das ist, wenn die Menschen nicht nur durch gemeinsame Interessen und Ziele miteinander verbunden sind, sondern auch durch Ort und Zeit, durch Stimmung, Kraft und Geist. Und wenn die Zahl dieser Menschen gewaltig ist.“
Ein weiterer berührender Text ist der des Schriftstellers Alhierd Bacharevič, der schildert, wie stolz er auf die Menschen von Minsk ist.
Den einzigen theoretischen Beitrag liefert Viktor Martinowitsch, der sich mit Hannah Arendts Begriff von der „Banalität des Bösen“ auseinandersetzt. Martinowitsch widerspricht Arendt in Bezug auf den heutigen belarussischen Faschismus – dort seien sich die Verantwortlichen jederzeit dessen bewusst, was sie tun, nur sei die Verantwortlichkeit eben ausgesetzt, erst recht, wenn die Spezialeinheiten maskiert und anonym prügeln könnten. Martinowitsch verlässt auch die linke Komfortzone, indem er sich damit auseinandersetzt, unter welchen Bedingungen sich das Böse in uns allen instrumentalisieren lässt.
„Stimmen der Hoffnung“ ist ein Buch, dem man gerade in diesen Tagen viele Leser:innen und Käufer:innen wünscht – hat sich zuletzt die ganze Grausamkeit des Regimes schließlich erneut in den Fällen des Bloggers Roman Protassewitsch, des Oppositionellen Vitali Schischow, der Sportlerin Kristina Timanowskaja oder der Mittelalterfolk-Band Irdorath gezeigt. Wie das System Lukaschenko funktioniert, mit seinen Zivilpolizisten (Tichari), mit den schwarz gekleideten Schlägertrupps, mit seinen Strafkolonien, davon liefern diese Zeugnisse einen sehr genauen Eindruck.
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