Neues Grundgesetz in Chile: Gerechtigkeit mit Verfassungsrang?

Diktator Augusto Pinochet verankerte den Neoliberalismus in Chiles Verfassung. Nach massiven Protesten geht es jetzt um ein neues Grundgesetz.

Eine Frau, Elisa Loncon, hält in einem Versammlungssal eine blau-grün-rote Fahne

Die Mapuche Elisa Loncon beim Verfassungskonvent Anfang Juli Foto: Ivan Alvarado/reuters

„Heute wird ein neues Chile gegründet“, sagt die Mapuche-Frau Elisa Loncon in ihrer Antrittsrede. Gerade haben die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung sie zu ihrer Präsidentin gewählt. „Ein plurales, mehrsprachiges Chile mit allen Kulturen, allen Völkern, den Frauen und den Territorien – das ist unser Traum für eine neue Verfassung.“

Viele sind von der Rede zu Tränen gerührt. Es ist Anfang Juli 2021 und das erste Mal, dass eine indigene Frau in Chile in ein hohes politisches Amt gewählt wird. Die Hoffnungen in sie und in die verfassunggebende Versammlung sind groß.

Dass Chile eine neue Verfassung bekommen könnte, ist eine Errungenschaft des sozia­len Aufstands, der 2019 und 2020 das schmale Land an der Pazifikküste aufgerüttelt hat. Einer der Auslöser der Proteste war die grassierende soziale Ungleichheit.

Das aktuell gültige Grundgesetz verabschiedete Diktator Augusto Pinochet 1980 ohne demokratische Mindeststandards. So erhielt das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell Verfassungsrang, in dem die Rolle des Staats auf ein Minimum beschränkt und die des Markts auf alle Gesellschaftsbereiche ausgeweitet wurde.

80 Prozent der Chi­le­n*in­nen sind verschuldet

„Das Modell hat die Oberschicht reich gemacht, aber die Lage für die Mehrheit verschlechtert, weil die sozialen Grundrechte nicht garantiert werden“, sagt Claudia Heiss, Politikwissenschaftlerin der Universidad de Chile. „Das hat sich in 30 Jahren Demokratie nicht verändert, weil die starren Institutionen der Diktatur weiterhin bestehen und den Neoliberalismus bewahrt haben.“

Der Mindestlohn in Chile liegt bei etwa 370 Euro im Monat. 80 Prozent der Renten sind niedriger als der Mindestlohn. Gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten hoch. Gesundheits- und Bildungswesen funktionieren nach den Regeln des freien Markts. Was in anderen Ländern soziale Rechte sind, die vom Staat garantiert werden, gilt in Chile als Ware, deren Qualität davon abhängt, wie viel man bezahlen kann.

Die Behandlungen von lebensgefährlichen Krankheiten, wie zum Beispiel Krebs, werden nicht von der öffentlichen Krankenversicherung übernommen, weshalb es in Chile normal ist, ein Bingo zu veranstalten, um einen medizinischen Eingriff zu finanzieren. Viele müssen sich verschulden, um die hohen Lebenshaltungskosten zu bewältigen. 80 Prozent der Chi­le­n*in­nen sind verschuldet.

Präsident Sebastián Piñera hingegen besitzt dem Forbes Magazine zufolge ein Vermögen von 2,8 Milliarden US-Dollar und gehört zu den reichsten aktiven Politikern der Welt. Reich geworden ist er unter anderem durch die Einführung von Kreditkarten in Chile. Sein Bruder José Piñera war Arbeitsminister unter Pinochet und erschuf die privaten Rentenfonds AFP.

Klimawandel, Dürre, Wasserprivatisierung

Soziale Gerechtigkeit erhoffen sich viele durch die neue Verfassung. Die meisten linken und parteiunabhängigen Mitglieder des Verfassungskonvents, die sozialen Bewegungen angehören, wollen eine staatliche Rentenversicherung und den Zugang zu einem öffentlichen und gut ausgebauten Bildungs- und Gesundheitswesen verfassungsrechtlich verankern.

„Unser Programm steht in einer Linie mit den Bestrebungen der Revolte: Den Neoliberalismus in Chile zu beenden und einen solidarischen, plurinationalen Staat aufzubauen, der Rechte garantiert“, sagt Alondra Carrillo, feministische Aktivistin und Mitglied des Verfassungskonvents.

Deutschland gehört zu den reichsten Staaten der Welt – aber Wohlstand, Bildung, Gesundheit und Glück sind höchst ungleich verteilt. Wie wird die kommende Bundestagswahl die Weichen stellen für die Verteilungsprobleme? Wen wird es treffen, dass die öffentlichen Kassen nach der Pandemie leergefegt sind? Schaffen wir es, das Klima zu schützen und dabei keine Abstriche bei der sozialen Gerechtigkeit zu machen? Unter dem Motto „Klassenkampf“ widmet sich die taz eine Woche lang Fragen rund um soziale Gerechtigkeit.

Alle Texte hier.

Auch ökologische Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema der Debatte über eine neue Verfassung. Chile ist stark vom Klimawandel betroffen und erlebt gerade eine der schwersten Dürren seiner Geschichte. Verschärft wird die Krise durch die Wasserprivatisierung, die dazu geführt hat, dass die auf Export ausgerichteten Agrar- und Bergbauunternehmen im Besitz des Großteils der Wassernutzungsrechte sind.

Vor wenigen Tagen gab eine staatliche Umweltbehörde dem umstrittenen Bergbauprojekt Dominga grünes Licht. Es war in den Vorjahren mehrfach abgelehnt worden, weil das Projekt ein Naturschutzgebiet in der Nähe von La Serena im Norden des Landes gefährden würde, in dem Humboldt-Pinguine und zahlreiche andere Tier- und Pflanzenarten leben.

„Extraktivistische Projekte wie dieses gehen in die entgegengesetzte Richtung von unserem Projekt für eine ökologische Verfassung“, sagt Cristina Dorador, Mikrobiologin, Umweltaktivistin und Mitglied des Verfassungskonvents. „Wir brauchen ein neues Paradigma, ein neues Entwicklungsmodell, das nicht die Ökosysteme zerstört.“

Um soziale und ökologische Gerechtigkeit in Chile zu erreichen, sei die Rolle der Indigenen besonders wichtig, bekräftigt Eli­sa Loncon. „Wir erleben eine globale Krise aufgrund der Beziehung des Menschen zur Natur“, sagt sie. „Wir indigenen Völker haben das Wissen, die Werte und die Praxis für ein besseres Zusammenleben.“ Deshalb sei es unerlässlich, die Plurinationalität des Staats verfassungsrechtlich zu verankern.

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