Vergessene Opfer der Nazis: Die Erinnerung wurde vertagt

Die Verfolgung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ durch die Nazis ist heute kaum bekannt. Das wollte der Bundestag ändern. Die Umsetzung stockt.

Rosen liegen neben Stolperstein - während der Stolpersteinverlegung für als asozial verfolgte Menschen

Späte Erinnerung: 2016 wurden die ersten Stolpersteine für als „Asoziale“ Verfolgte in Berlin verlegt Foto: Markus Heine/imago

BERLIN taz | Frank Nonnenmacher ist enttäuscht. Als der Bundestag im Februar 2020 beschloss, jene als Opfer des Nationalsozialismus anzuerkennen, die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern gequält und ermordet wurden, war das auch ein Erfolg für Nonnenmacher: sein Onkel Ernst war einer von ihnen. Doch heute, mehr als ein Jahr nach dem Beschluss, ist kaum etwas passiert. „Und keiner hat nachgefragt“, bedauert Nonnenmacher, der den Bundestagsbeschluss mit einer breit getragenen Petition damals maßgeblich initiierte.

Alle Fraktionen außer der AfD stimmten im Bundestag dem Antrag der Großen Koalition zu. Die beiden vergessenen Opfergruppen sollten Platz im öffentlichen Gedenken erhalten, ihre Biografien und die Ressentiments in einer Wanderausstellung erarbeitet und ihre Entschädigungsansprüche im Allgemeinen Kriegsfolgegesetz (AKG) betont werden.

Bis heute ist das Grauen der Verfolgung kaum öffentlich bekannt. „Berufsverbrechern“ unterstellten die Nazis etwa ein kriminelles Gen, sie wurden als „Ballastexistenz“ diskriminiert. Als „Asoziale“ galten etwa Obdachlose, Alkoholkranke, Unangepasste. Zehntausende wurden zur Gefahr, zu „Schädlingen“ für das vermeintlich gesunde deutsche Volk erklärt. Sie wurden sterilisiert, gequält, verfolgt, ermordet. Während die Schicksale der Betroffenen heute fast vergessen sind, leben entsprechende Stereotype in der Gesellschaft weiter.

Eine Wanderausstellung soll das ändern, beschloss der Bundestag. Die Gedenkstätte Flossenbürg und die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas wurden mit der Konzeption beauftragt. Im September 2020 startete das Projekt, die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, sagte 1,5 Millionen Euro zu.

Pandemie verzögert die Arbeit

„Wir sind pandemiebedingt in deutlichem Zeitverzug“, bedauert Christa Schikorra, Leiterin der Bildungsabteilung der Gedenkstätte Flossenbürg. Durch die Pandemie und die Schließung von Bibliotheken und Archiven sei die Arbeit deutlich erschwert worden. Zwei Stellen für wissenschaftliche Mit­ar­bei­te­r:in­nen für das Projekt sind bis heute nicht ausgeschrieben, das soll bald passieren. Eine geplante Eröffnung im Jahr 2023 sei auszuschließen.

Ein Sprecher der Staatsministerin für Kultur und Medien betont auf taz-Anfrage die Komplexität der Ausstellung. So gebe es „zahlreiche Querverbindungen zu anderen NS-Verbrechen“ sowie eine „besondere Diversität der Opfer“. Man plane digitale pädagogische Angebote und eine wissenschaftliche Tagung.

Im Zentrum der Ausstellung stünde auch die „Kommentierung autobiographischer Berichte“. Dabei, erklärt Schikorra, sollten stets auch die „Bilder im Kopf der Besuchenden“ adressiert werden. Auch über eine Zusammenarbeit mit Angehörigen der Opfer denke man nach, eine „legitimierte Vertretung“ fehle leider, so Schikorra zur taz.

„Das ist das Ergebnis eines 70-jährigen Ignorierens und 70-jähriger Scham“, sagt Nonnenmacher. Nach 1945 erfuhren viele Betroffene vor allem Ablehnung und Unverständnis für ihre Erlebnisse und entschieden sich zu schweigen. Interessensvertretungen gründeten sie nicht, ihre Verfolgungsgeschichte behielten viele für sich. Bis zu ihrem Tod. „Man muss graben, forschen, gerade bei den nachfolgenden Generationen der Opfer“, betont der emeritierte Professor.

Viele Opfer sind verstorben, die Stereotype leben weiter

Neben der Erinnerung ging es in dem Bundestagsbeschluss auch um Entschädigungszahlungen. „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ sollten in die Liste der Leis­tungs­emp­fän­ge­r:in­nen im Allgemeinen Kriegsfolgegesetz (AKG) aufgenommen werden. In dessen Härterichtlinien werden bisher Euthanasiegeschädigte, Zwangssterilisierte und Homosexuelle als Beispiele benannt.

Das ist bis heute nicht passiert. Auf taz-Anfrage beteuert das Bundesfinanzministerium, an einer solchen Änderung zu arbeiten und sie „in Kürze“ dem Bundeskabinett vorlegen zu wollen.

Die explizite Benennung würde an der „Rechtstellung der Betroffenen“ nichts ändern, so das Ministerium. Seit dem Erlass der AKG-Härterichtlinien im Jahr 1988 stünde ihnen „eine Einmalleistung in Höhe von 5.000 DM bzw. 2.556,46 Euro“ zu. Dies hätten seitdem 46 als „Berufsverbrecher“ und 288 als „Asoziale“ Verfolgte auch beantragt. Seit dem Bundestagsbeschluss von 2020 sei jedoch kein weiterer Antrag eingegangen, so das Finanzministerium. Viele Opfer dürften den Beschluss nicht mehr erlebt haben.

Nonnenmacher ist pessimistisch. „Viele werden heilfroh und zufrieden sein, wenn es dann irgendwann mal eine Ausstellung gibt und die Sache für manche endlich abgehakt ist“, vermutet er. Aus dem Bundestag war während der Beratung des Antrags immer wieder zu hören, dass es auch unter den Abgeordneten Skepsis gab.

Die Nennung in den AKG-Härterichtlinien ist Nonnenmacher wichtig. Doch er hat das Gefühl, ständig nachhaken zu müssen. „Und das ist doch eigentlich nicht meine Aufgabe“, bedauert Nonnenmacher.

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