Verhaftung nach „NSU 2.0“-Drohserie: Das Ende der Jagd
Der Berliner Alexander M. soll der Verfasser der „NSU 2.0“-Drohserie sein – und fiel bereits einschlägig auf. Die Betroffenen aber glauben nicht an einen Einzeltäter.
Dennoch: Die Festnahme vom Montag scheint für die Ermittler endlich der entscheidende Schlag in der seit zweieinhalb Jahren währenden Drohserie des selbsternannten „NSU 2.0“, firmierend nach den mörderischen Rechtsterroristen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“.
Seit August 2018 hatte ein Unbekannter Drohmails an Başay-Yıldız, die heutige Linken-Chefin Janine Wissler, die Kabarettistin Idil Baydar, die taz-AutorIn Hengameh Yaghoobifarah und andere geschickt. Insgesamt 115 Schreiben gingen an 32 Personen und 60 Institutionen mit wüstesten Gewaltandrohungen. Im Fall von Başay-Yıldız, Wissler und Baydar waren sie auch versehen mit persönlichen Daten, die zuvor auf Polizeicomputern in Frankfurt, Wiesbaden oder Berlin abgerufen wurden. Andere Mails enthielten nur Beschimpfungen oder Daten, die auch anderweitig recherchierbar waren.
Zweieinhalb Jahre wurde dazu erfolglos ermittelt. Zweieinhalb Jahre, in denen der Verdacht anhielt, ob nicht auch Polizisten selbst hinter den Drohschreiben stecken könnten und ein rechtsextremes Netzwerk bis hinein in den Sicherheitsapparat. Bis am späten Montagabend Alexander Horst M. im Berliner Stadtteil Wedding festgenommen wurde.
Gefasst über Kommentare auf einem rechten Portal
Die Ermittler überraschten den erwerbslosen 53-Jährigen an seinem PC. Auf ihn gestoßen waren sie durch die Überwachung von Foren des islamfeindlichen Onlineportals „PI News“. Dort bemerkten sie einen User, dessen Duktus dem der Drohschreiben ähnelte. Zugleich fanden sie auf einer Schachplattform ein Profil, das dieselbe Comicfigur als Profilbild benutzte. Auch war die IP-Adresse die gleiche, ebenso wie Beleidigungen im Chat auf der Schachseite. Und: Auf dieser Seite nannte der Nutzer Berlin als seine Ortsangabe. Über Bestandsdatenabfragen bei dem Schachportal und bei Kommunikationsanbietern konnte Alexander M. schließlich identifiziert werden.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt spricht von „unzähligen Bezügen“ in den Drohschreiben und Kommentaren von Alexander M. auf den Standort Berlin. „Auffällig war, dass es sich hierbei um das direkte Wohnumfeld des Beschuldigten handelte.“ Am 14. April leitete die Staatsanwaltschaft schließlich ein Ermittlungsverfahren gegen den 53-Jährigen ein. Am 23. April erließ das Frankfurter Amtsgericht einen Haftbefehl – der nun am Montagabend vollstreckt wurde. Als die Spezialkräfte die Wohnung von Alexander M. stürmten, fanden sie auch eine einsatzbereite Schusswaffe.
Zwei Stunden später vermeldete die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main die Festnahme via Presseerklärung. Mit dem expliziten Verweis, dass der Gefasste „zu keinem Zeitpunkt Bediensteter einer hessischen oder sonstigen Polizeibehörde war“.
Auch Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU), dem Betroffene mangelndes Engagement in der Affäre vorgeworfen hatten, jubelte: Sollte sich der Tatverdacht erhärten, wäre dies „ein ganz herausragender Ermittlungserfolg“. Dutzende unschuldige Opfer sowie die gesamte hessische Polizei könnten dann „aufatmen“.
Tatsächlich stand nicht nur Beuth mächtig unter Druck, sondern die gesamte hessische Polizei. Im Laufe der Ermittlungen wurde im Frankfurter Revier eine rechtsextreme Chatgruppe entdeckt, mehrere Beamte wurden suspendiert. Später musste auch Landespolizeipräsident Udo Münch zurücktreten, ein Sonderermittler wurde eingesetzt. Nach der Festnahme nun forderte die hessische Gewerkschaft der Polizei eine öffentliche Entschuldigung für den Generalverdacht und die „haltlosen Unterstellungen“.
Der Verhaftete stand immer wieder vor Gericht
Den Behörden war der festgenommene Alexander M. wohlbekannt. Aber es dauerte lange, bis den hessischen Ermittlern klar wurde, dass er offenbar auch der Verfasser der „NSU 2.0“-Drohschreiben war. Nach taz-Informationen stand der alleinstehende, kinderlose Langzeitarbeitslose schon ab 1992 in Berlin immer wieder vor Gericht. Mal wurde er wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt, mal wegen Bedrohung, Beleidigung, Betrugs oder Urkundenfälschung. 1995 wanderte er auch für dreieinhalb Jahre in Haft.
2006 wurde Alexander M. dann erneut zu einer Haftstrafe verurteilt, die später zur Bewährung ausgesetzt wurde. Er hatte Schecks gefälscht und damit mehrere tausend DM abgehoben. Auch fanden Polizisten bei ihm zu Hause Disketten mit Kinderpornografie. Und: Alexander M. hatte den Leiter der Berliner JVA Moabit in dessen Büro und auf seinem Privatanschluss angerufen und ihn wild beschimpft, weil sich sein Bruder angeblich vor zwei Jahren in dem Gefängnis aufgehängt habe. „Ich werde mich rächen. Ich werde sie umbringen“, soll Alexander M. gedroht haben. Den JVA-Leiter habe er als „perverses Schwein“ beschimpft. „Sie werden sich wundern, was ich überall über Sie erhalte.“ Als Polizisten später seine Wohnung durchsuchten, bezeichnete er diese als „Lügner“. In einem Schreiben an das Amtsgericht beklagte er sich, gegen ihn wären Verbrechen wie Nötigung oder Aussageerpressung begangen worden.
Auffällig ist, dass Alexander M. immer wieder mit Bedrohungen auffiel und wiederholt Beschwerdeschreiben an Behörden verschickte. Schon 1992 wurde er auch wegen Amtsanmaßung verurteilt: Er hatte sich als Kriminalbeamter ausgegeben.
Und: Er hat technische Fähigkeiten, kennt sich mit dem Internet aus, ist gelernter Facharbeiter für elektronische Datenverarbeitung. Vor Gericht gab er schon vor Jahren an, er sei ein Einzelgänger, der den ganzen Tag vorm Rechner sitze und eine große Begeisterung fürs Internet habe.
Trickste der Festgenommene die Polizei aus?
Es sind diese Punkte, die auch zur „NSU 2.0“-Drohserie passen. Denn auch hier verschickte der Täter seine Schreiben mit brachialen Drohungen, anonym aus dem Darknet. Das erste ging am 2. August 2018 an Başay-Yıldız, die im NSU-Prozess Opferfamilien vertrat, in anderen Verfahren auch Islamisten. Das Schreiben erreichte sie als Fax, gesendet über einen Onlineanbieter. Als Absender angegeben: „Uwe Böhnhardt“, der tote NSU-Terrorist. Die Anwältin wurde als „miese Türkensau“ beschimpft, genannt wurde ihre gesperrte Meldeadresse und der Name ihrer damals zweijährigen Tochter, die man „als Vergeltung schlachten“ werde. Die Daten wurden kurz zuvor im Frankfurter Revier abgerufen.
Die Vermutung der Ermittler: Alexander M. könnte schlicht über einen fingierten Anruf an die Informationen gekommen sein. Er könnte sich als Behördenvertreter ausgegeben und die Daten abgefragt haben – auch in anderen Fällen. Dann wäre nicht mehr von einem Netzwerk die Rede, sondern von einem Rechtsextremen, der Polizisten übertölpelte. Andere Daten könnte Alexander M. wiederum über das Darknet bezogen haben.
Tatsächlich bemerkte Alexander M. selbst vor einiger Zeit in einem Schreiben an das Berliner Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, dass man Behörden missbräuchlich personenbezogene Daten entlocken könne und er dies auch schon getan habe. Explizit benannte er dabei fingierte Anrufe.
Zwei solcher Anrufe gab es auch mal bei der taz, im August 2018, zwei Wochen nach dem Drohfax an Başay-Yıldız. Der Mann ließ sich beim ersten Telefonat zum Geschäftsführer durchstellen und behauptete, er sei Polizist und brauche die Kontaktdaten von taz-AutorIn Hengameh Yaghoobifarah für eine Strafanzeige. Beim zweiten Mal erreichte er die stellvertretende Chefredakteurin. Beide aber rückten die Adressdaten nicht raus, baten vielmehr um die Kontaktdaten des Beamten – bis dieser das Gespräch mit der Drohung beendete: „Ihrer Kollegin blüht noch einiges.“ Von sich nannte der angebliche Polizist nur den Abschnitt, auf dem er arbeite: Berlin-Wedding. Der Stadtteil, in dem Alexander M. nun festgenommen wurde.
Waren die Polizisten im Frankfurter Revier weniger misstrauisch? Ließen sie sich austricksen? Das sei „Gegenstand der laufenden Ermittlungen“, sagt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft der taz. Wäre es so, stellt sich indes die Frage, warum alle verdächtigten Beamten im Revier bestritten, die Datenabfrage gemacht zu haben – und sonst schwiegen. Hätten sie nicht einfach von dem Anrufer berichten können?
Und: Wie kam der Drohschreiber auch noch an die neue Adresse von Basay-Yildiz nach ihrem späterem Umzug, die mit einem Sperrvermerk versehen waren? Auch diese soll einfach am Telefon weitergegeben worden sein – trotz des nun bundesweiten Wirbels um den Fall?
„Ich glaube noch nicht an die arme, naive Polizei“
Auch wegen dieser Fragen reagierten die Bedrohten am Dienstag vorerst verhalten. „Ich glaube noch nicht an die Erzählung der armen, naiven Polizei“, sagt Idil Baydar der taz. „Da werden in verschiedenen Revieren unsere Daten einfach so rausgegeben, ohne dass das weiter festgehalten wird? Das sind mir ein bisschen zu viele Zufälle.“ Zudem sei über die Chatgruppen ja nachgewiesen, dass einige Beamte rechtsextrem tickten, so Baydar. Auch die Linken-Chefin Janine Wissler sagte der taz: „Wie soll dieser Mann aus Berlin ohne Bezug zur Polizei an sensible Daten gekommen sein?“ Ihre Parteikollegin Martina Renner, die ebenfalls „NSU 2.0“-Drohschreiben erhielt, erklärte: „Dass der mutmaßliche Täter alleine gehandelt hat, ist mehr als unglaubwürdig.“
Seda Başay-Yıldız hatte ihr letztes Drohschreiben am 19. Februar dieses Jahres erhalten, am Jahrestag des Hanau-Anschlags. Mehr als ein Dutzend Schreiben waren es insgesamt. Die Anwältin lobte zwischenzeitlich selbst eine Belohnung von 5.000 Euro für Hinweise auf den Täter aus. Und sie ließ, auf Anraten des LKA, ihr Haus absichern. Auf den Kosten blieb Başay-Yıldız bisher sitzen. Sie will diese nun vom Land Hessen einklagen.
Gegen Alexander M. wurde am Dienstag vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten Haftbefehl erlassen. Die Ermittler werten nun seine beschlagnahmte Hardware aus. Sicher ist Başay-Yıldız aber auch nach der Festnahme nicht. Denn offen ist, ob es weitere Mittäter gab, die etwa Informationen zusammentrugen. Und schon im Sommer 2020 war ein Trittbrettfahrer in Bayern verhaftet worden, ein Ex-Polizist, der ebenfalls als „NSU 2.0“-Drohschreiben verschickt hatte. Zuletzt war zudem die neue Adresse von Başay-Yıldız in einem rechten Forum im Darknet veröffentlicht worden, einsehbar für viele Nutzer. Der Hass, er könnte also weitergehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin