Schulen in der Coronakrise: KMK will weg vom Inzidenzwert
Die Kultusminister:innen fordern, sich bei Entscheidungen über Schulöffnungen nicht mehr nur am Inzidenzwert zu orientieren.
BERLIN taz | Es war eine schon fast klassische Koinzidenz: Während die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst (SPD), am Freitag bekräftigte, man sei sich in der KMK einig, die Schulen so lange wie möglich offen zu halten, ploppte die Nachricht auf, dass Hamburg wegen steigender Infektionszahlen die Notbremse zieht. Das öffentliche Leben wird wieder eingeschränkt. Die Schulen sollen allerdings vorerst noch offen bleiben. Wie lange ist ungewiss.
Deutschlandweit lag die 7-Tage-Inzidenz am Freitag bei 97 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner:innen. Noch am Wochenende dürfte sie über die 100er-Marke schnellen. Die Kultusminister:innen, das wurde nach dem Treffen deutlich, stemmen sich mit aller Kraft gegen die drohenden erneuten Schulschließungen.
Man betrachte mit Sorge die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, betonten Ernst und ihre Kollegen aus Hamburg und Hessen, Ties Rabe (SPD) und Alexander Lorz (CDU). Und zwar nicht nur hinsichtlich der Lernstände, sondern auch wegen der negativen Folgen der sozialen Isolation sowie des Wegfalls von Kontakten zu Gleichaltrigen außerhalb der Familien. „Im vergangenen Jahr war in der Hälfte der Schulzeit kein Präsenzunterricht möglich“, so der Hamburger Schulsenator Rabe. Man habe sehr viel Grund zu der Annahme, dass ein großer Teil der Schüler:innen große Schwierigkeiten habe, den Lernstoff zu Hause allein zu bewältigen.
Deshalb müssten Schulen „im Vergleich zu anderen Lebensbereichen am längsten geöffnet bleiben“, so der Beschluss der KMK. Diese Position wird wohl spätestens ab nächster Woche, wenn die Inzidenzen bundesweit im dreistelligen Bereich liegen, schwierig zu kommunizieren sein. Die Kultusminister:innen schlagen deshalb vor, „bei Entscheidungen über den Schulbetrieb perspektivisch zu prüfen, das Kriterium der Inzidenz um weitere Kriterien zu ergänzen“. Gemeint sind etwa die Auslastung der Intensivstationen und der Anteil der schweren Verläufe.
Starker Anstieg der Selbsttests erwartet
Die Minister:innen begründen ihren Vorstoß auch mit der Ausweitung der Selbsttests. In allen Bundesländern würden nun in großem Stil Selbsttests an den weiterführenden Schulen verteilt. So bekommen etwa in Berlin alle Schüler:innen von Abschlussklassen seit dieser Woche zwei kostenlose Tests pro Woche ausgeteilt. In Hamburg kämen zu den bisherigen 15.000 Tests noch zwei- bis dreimal so viele dazu, sagte Rabe. Die steigende Zahl der Tests hätte dann natürlich auch einen Anstieg der Inzidenzwerte zur Folge.
Ein früherer Start der Osterferien, die bundesweit Ende März, Anfang April beginnen, sei bislang kein Thema, so Ernst. „Für Brandenburg kann ich das definitiv ausschließen.“ In den Osterferien werde die Lage neu bewertet. „Wir kämpfen um jeden Tag“, sagte Ernst.
In vielen Bundesländern schließen erste Gemeinden allerdings bereits wieder Schulen und Kitas. Etwa in Thüringen, in der Stadt Gera und weiteren Landkreisen. Das Land hatte den Landkreisen die Entscheidung freigestellt und lediglich empfohlen, ab einer Inzidenz von 150 zu schließen.
Bundesweit war jede zehnte Schule zu
In Nordrhein-Westfalen streiten sich Landkreise und Landesregierung dagegen heftig. FDP-Kultusministerin Yvonne Gebauer will Schulen offen halten, und zwar auch gegen den Willen der lokalen Behörden. Düren und Dortmund haben jedoch die erneute Schließung ihrer Einrichtungen durchgesetzt. Umfragen zufolge, die die KMK am Donnerstag veröffentlichte, war in der vergangenen Woche etwa jede zehnte Schule geschlossen.
Außerdem fordern die Kultusminister:innen erneut, Lehrer:innen und Erzieher:innen vorrangig zu impfen. Wie hoch der Anteil der bereits geimpften Lehrer:innen und Erzieher:innen ist, erfasst die KMK allerdings nicht zentral. Für Brandenburg konnte Ernst sagen, dass 90 Prozent der Lehrer:innen Impfberechtigungen erhalten hätten. Sie hoffe, dass ein großer Teil von ihnen davon Gebrauch mache.
Leser*innenkommentare
Baghi66
Und warum investiert man nicht endlich schnell in sichere Schulen? Alle schreien nur öffnen und reden von Bildungslücken, aber die wenigsten investieren. Warum sind wir so wirtschaftslastig?
Sonntagssegler
Schon in meiner Jugend (70er) waren die Kultusminister in erster Linie ein selbsverliebter und überheblicher Haufen von Besserwissern.
Nur deshalb hat jedes Bundesland ein eigenes, in Nuancen varierendes Englischbuch.
Das diese jetzt auch Bildung über Gesundheit stellen, passt da gut ins Bild.
17900 (Profil gelöscht)
Gast
@Sonntagssegler Mit einem Wort eine GURKENTRUPPE.
Dilettantismus ist Pflicht!
DaBa
Mal so nebenbei: Die Öffnung von Schulen und Kitas steht ständig auf dem Prüfstand und wird permanent diskutiert. Bei religiösen Veranstaltungen ist das längst nicht so. In Baden-Württemberg z.B. sind regelmäßige religiöse Veranstaltungen mit mehr als 10 Teilnehmern grundsätzlich erlaubt. So lange ein Mindestabstand von 1,5m eingehalten wird, dürfen bis zu 500 Personen zusammen kommen. Klar, mit Maske und es darf nicht gesungen werden. Aber es gibt keine Notbremsen-Inzidenzwerte und wer kontrolliert schon die Einhaltung der AHA-Regeln?
Familienleben, Vereinsleben, Museen, Bibliotheken, Geschäfte - alles nur mit striktesten Auflagen oder überhaupt nicht - aber religiöse Treffen, das geht. Und gerade bei Freikirchen kommen die gemeindemitglieder oft aus einem überregionalen Umfeld. Für mich absurd und eine Ungleichbehandlung von Menschen, die keiner Kirche angehören.
Ingo Bernable
Allmählich wird es albern. Vor rund zwei Wochen lag der Inzidenzwert bei etwa 60, aber weil man unbedingt öffnen wollte legte man den Grenzwerte kurzerhand mal eben bei 100 fest, Brandenburg gleich mal bei 200. Nach den ersten Überschreitungen auch dieser neuen Grenze wurde dann auf Kreisebene nicht die versprochene Notbremse gezogen, sondern begonnen Massenausbrüche aus der Statistik herauszurechnen oder die Formel zur Berechnung der Mittelwerte passend gemacht. Und nachdem die neue 100er-Grenze heute auch bundesweit überschritten ist, schaut sich die KMK nach einem neuen Kriterium um, aber wer glaubt denn noch, dass das dann auch Anlass zum Handeln ist wenn auch diese neue Grenze dann demnächst gerissen wird? Dafür, dass es sinnvoll und notwendig ist die jeweiligen Maßnahmen an die Lage anzupassen habe ich volles Verständnis, aber die immer kürzer werdenden Halbwertszeiten der dafür zugrunde gelegten Grenzwerte ist schon längst nicht mehr aus dem Pandemieverlauf zu erklären. Und nachdem Merkel nun erklärte endlich die von der Notbremse Gebrauch zu machen, muss man wohl befürchten, dass die Länder dem nach inzwischem bekannten Muster erstmal zustimmen und dann doch ihr eigenes Süppchen daraus kochen werden.
Rühl Oliver
Wir sollten uns beim Klima dann auch nicht am CO2 Ausstoß orientieren.
Eher an... ööh
zmx52
Zitat: "Die Kultusminister:innen schlagen deshalb vor, „bei Entscheidungen über den Schulbetrieb perspektivisch zu prüfen, das Kriterium der Inzidenz um weitere Kriterien zu ergänzen“. Gemeint sind etwa die Auslastung der Intensivstationen und der Anteil der schweren Verläufe."
Entweder sind sich die für Bildung zuständigen MinisterInnen nicht im Klaren darüber, dass der Ansturm auf die Intensivstationen immer mit 2-3wöchiger Verzögerung kommt, oder sie spielen ein zynisches Spiel mit der Gesundheit der Menschen.
Beides disqualifiziert die Truppe.
Ja, ich weiß, für die SchülerInnen ist die Situation schlimm. Aber das Problem ist das Virus selbst - auch das scheinen die Damen und Herren irgendwie nicht zu begreifen.
Vor Covidioten, die wochenends Kundgebungen abhalten, fürchte ich mich nicht. Die sind nicht gefährlich - die Realitätsverweigerer in den Landesregierungen hingegen schon.
nutzer
Auf welchem Planeten leben die Kultusminister eigentlich?
Die Konsequenzen, wenn Kinder in Quarantäne müssen trägt jede einzelne Familie ganz alleine, mit allen Konsquenzen. Es ist ja nicht so, das in den Schulen aktiv getestet wird, das liegt zumindest hier noch im "Hätte, könnte, wir wollen-Land", stattdessen wird über jede einzelne Kontaktperson gefeilscht, da geht es um Dezimeter, Tests der Kontaktpersonen, sind auch kein Automatismus....
Wie kann die KMK so etwas vertreten? Ja, Kinder gehören wieder in die Schule, aber erst müssen die Strukturen stimmen, um das Risiko so gering wie möglich zu halten!
Stattdessen wird Verantwortlichkeit verschoben und Konsequenzen auf die einzelnen abgeladen.
Libuzzi
@nutzer Test kommen jetzt tatsächlich auf breiterer Ebene, was aber nichts heißt. Es wird nämlich tatsächlich " über jede einzelne Kontaktperson gefeilscht, da geht es um Dezimeter"; wenn man sich die Regelungen der Gesundheitsbehörden durchliest, was bei einem bestätigten Fall passiert, greift man sich an den Kopf.
Vor allem aber: Was bringt es, wenn LehrerInnen und ErzieherInnen bevorzugt geimpft werden, die Schüler aber nicht? Schulen haben in GB einen erheblichen Beitrag zur dritten Welle geleistet. Das sollte man einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
Abgesehen davon ist das Schuljahr für einen beträchtlichen Teil der Kinder/Jugendlichen schon am Ar... Das will aber niemand wahrhaben, weil es dann wirklich kompliziert wird.