Kardinal Woelki lehnt Rücktritt ab: Im kölschen Nebelland

Die Verantwortung für den Missbrauchsskandal im Erzbistum Köln ist unstrittig. Kardinal Woelki will „rigoros handeln“, aber nicht gehen.

Wölki zieht eine Schnute

Ein Rücktritt? „Das wäre nur ein Symbol“, sagt Rainer Maria Woelki am Dienstag und bleibt im Amt Foto: Oliver Berg/dpa

KÖLN taz | Kardinal Rainer Maria Woel­ki kommt als Büßer. Mit anfangs leicht krächzender Stimme referiert er am Dienstag, fünf Tage nach Veröffentlichung des Gutachtens über den Umgang seines Erzbistums Köln mit sexualisierter Gewalt, über Konsequenzen. Einmal führt Woelki seine gespreizte rechte Hand recht lange zur Herzgegend.

Ja, es sei so viel falsch gelaufen: „Der Ruf der Kirche wurde höher bewertet als das Leid der Betroffenen. Generell fehlte es an Mitgefühl.“ Ja, es habe ein „System aus Schweigen, Geheimhaltung und mangelnder Kontrolle“ gegeben, kurz: „Chaos in der Verwaltung“ – das aber werde sich ändern, verspricht Woelki, zukünftig dürfe „keine Akte mehr hinter den Schrank fallen“. Und ja, „die moralische Verantwortung liegt auch bei mir. Die Kirche ist immer eine Kirche der Sünder. Ich habe Fehler gemacht. Und ja, ich werde wieder Fehler machen.“

Aber Rücktritt? Nein. „Das wäre nur ein Symbol.“ Er will selbst wiedergutmachen und bietet jedem Betroffenen ein persönliches Gespräch an.

Freispruch mangels Beweisen

Die letzten Tage von Köln haben einiges an Dynamik an den Tag gelegt: Am Donnerstag letzter Woche hat der Kölner Strafrechtler Björn Gercke sein Gutachten über schwere Versäumnisse im Bistum vorgestellt. Für den Kardinal selbst mit einem schönen Ergebnis: „Hinsichtlich Erzbischof Dr. Woel­ki konnten wir keine Pflichtverletzung erkennen.“ Weltlich heißt das: Freispruch mangels Beweisen.

Rainer Maria Woelki, Kardinal

„Die Kirche ist immer eine Kirche der Sünder. Ich habe Fehler gemacht. Und ja, ich werde wieder Fehler machen“

Gercke hat aus den Akten seit 1975 „202 Beschuldigte und (mindestens) 314 individualisierbare Betroffene“ identifiziert, meist Kinder, davon mehrheitlich Jungen unter 14, Tatorte auffallend oft priesterliche Privatgemächer, Dunkelziffer hoch. Ein Kompendium des Ekels. In mindestens 75 Fällen schreibt Gercke acht hochrangigen Bistumsmitarbeiten üble Pflichtverletzung zu: nicht weiter nachgefragt, Anzeigen unterlassen, Opfer ignoriert und allein gelassen, Akte zu.

Heißt das: systematisch vertuscht? Nein, sagte der Gutachter, sondern: „systembedingte Vertuschung“, eine Formulierung, die Woelki eins zu eins übernimmt. Das heißt: Vertuschung quasi von selbst, durch Ignoranz, Fahrlässigkeit, Gottvertrauen aufs Durchwurschteln.

Das Gutachten basiert auf Akten, die das Bistum herausgerückt hat. Diese könnten weitgehend vollständig sein. Aber selbst wenn: Die erzbischöfliche Buchhaltung muss man sich über Jahrzehnte hinweg wie das unaufgeräumte Spielzimmer eines 13-Jährigen vorstellen: Zettelwirtschaft, Tohuwabohu, unleserliche Handschriften, Unauffindbares überall. Björn Gercke sagte dazu: „Keine Kontrolle, kein Austausch mit Dritten, ausgeprägte Rechtsunkenntnis, fehlendes Bewusstsein für Gesetze, ein System der Unzuständigkeit.“

Noch am Donnerstag hatte Woel­ki seine Untergebenen, Weihbischof Dominicus Schwaderlapp und den Domkapitular Günter Assenmacher, freigestellt. Er wählte dabei nicht die sanfte Variante, sondern inszenierte sich als knallharter Durchgreifer – auch wenn er, wie er Dienstag sagte, natürlich mit beiden vorher Gespräche geführt hatte.

Der ebenfalls schwer belastete Hamburger Erzbischof Heße, jahrelang ein Spezi Woelkis in Köln, hat dem Papst seine Bitte um Rücktritt gekabelt, ein Novum in Deutschland. Freitag bat der Kölner Weihbischof Ansgar Puff um Abgangserlaubnis, obwohl er in dem Gutachten gar nicht genannt wird.

Meisners Giftschrank

Identifiziert wurde laut Gutachter ein privater Giftschrank im Nachlass des langjährigen, bekannt erzreaktionären Kölner Kardinals Joachim Meisner, darin der Ordner „Brüder im Nebel“. Bei Meisner, nun posthum als vorsätzlicher Lügner entlarvt, fanden die Gutachter gleich 24 Pflichtverletzungen, ein Rekordwert. Pflichten umfassen: melden, aufklären, sanktionieren, Hilfe für Opfer. Das alles wurde unterlassen. Die schöne Frage, ob er, Woelki, als Weihbischof dabei „der Lotse im Nebel“ gewesen sei, ließ dieser unbeantwortet.

Bei dem Vortrag des Gutachters hatte Woel­ki ganz vorn gesessen. Ein einziges Mal, ganz am Ende, schaute ihn Gutachter Gercke direkt an. Das geschah bei dem Stichwort „Opferfürsorge“. Die müsse endlich strukturiert angepackt werden, hieß es. Eine Bemerkung, die nicht im Redemanuskript stand. Es war eine Art moralisches Urteil. Eine Sekunde Schweigen. Ob Woelki pflichtschuldig den Blick senkte, war nicht zu erkennen.

Man konnte das interpretieren wie: Leve Jung, du hast uns zwar gut bezahlt, wir haben dir mit über 900 Seiten einen Freispruch zweiter Klasse geliefert, doch wir wissen doch alle, was jenseits formaler Fehler alles fehlläuft in deinem Bistum, wie die vielen Opfer unter dem Joch deiner Priester unerträglich zu leiden hatten, oder? Später sagte Gercke noch, es brauche „ein totales Umdenken“. Aber ejal: Et hätt ja für Woelki persönlich noch mal jot jejange. Auffällig allerdings, dass sich Woel­ki eine Kölner Kanzlei zur Reinwaschung ausgesucht hat, die dazu mit einem externen Anwalt zusammenarbeitete, der mehrfach als Verteidiger von kirchlichen Missbrauchs­tätern wirkte.

Woelki wirkt mit seinen 64 Jahren nicht alt, sondern durch seine fusseligen Haare, die über den Hemdkragen ragen, und die wechselnden runden Designerbrillen fast jungenhaft. Sie lassen den Kardinal wie ein Gegenbild zum biederen, verstaubten Bischofsklischee erscheinen. Der Kardinal könnte auch ein empathischer Oberstufengeschichtslehrer an einer Gesamtschule sein, ganz in Existen­zia­listenschwarz gewandet.

Woelki, geboren in Köln, ist seit 1990 im dortigen Erzbistum tätig, erst Meisners Geheimsekretär (ja, so heißt das), später Bischofsvikar, dann Weihbischof. Im Jahr 2014 wurde er Meisners Nachfolger. Der Missbrauchsskandal mit mutmaßlich Tausenden Opfern allein im Bistum Köln war damals längst auf dem Tisch. Woelki wirkte wie frischer Wind. Und selbst die satirische Stunksitzung, die Meisner mehrfach erfolgreich beleidigt hatte („Sakral­stalinist“, „Hassprediger“), fiel auf den Neuen rein. „Über den Woelki“, donnerte eine Parodie von Reinhard Mays „Über den Wolken“ in der Session 2015 durch das Kölner E-Werk, „kann man bis heute nichts Schlechtes erzähln …“

Tja, damals, sagt Stunker Winni Rau heute, das war wohl eine üble Fehleinschätzung. „Der wirkte halt nicht so offensichtlich verknöchert und autoritär.“ In diesem Jahr, erzählt Rau, war ein neuer Text längst fertig, sinngemäß: „… was will er vertuschen – mit all den Kirchenluschen …“ Corona stoppte alle Aufführungen.

Bigottes Vertuschen – der große Vorwurf. Unter den Teppich kehren. Verantwortliche schonen. Für viele ist das das längst gefasste Urteil, Gutachten hin oder her. Sie wollen Schluss mit dem Interngemauschel machen und fragen: Wo bleibt die Staatsanwaltschaft, die im Nebel der geistlichen Brüder aufräumt? Tja, juristisch ist fast alles verjährt.

Ein erstes Gutachten anderer Anwälte von 2020 blieb bis heute unter Verschluss. Woelki gab im Herbst rechtliche Gründe an, genauer: „äußerungsrechtliche Mängel“. Was er genau damit meint, auch das bleibt im Nebel. Wollte er wen schützen, sich? Namen machten die Runde. Am Donnerstag soll dieses erste Gutachten in Köln ausgelegt werden, für handverlesenes Publikum, mit Termin; Fotografieren und Zitieren verboten. Augenschein­transparenz auf Zeit. Ein schlechter Witz. Gutachter Gercke sagte derweil: „Uns ist aufgefallen, dass sich kein Priester das Kind des örtlichen Anwalts oder des örtlichen Bürgermeisters oder des Dorfarztes ausgesucht hat, sondern es waren meistens Kinder aus schwierigeren, ärmeren Verhältnissen.“

Ist Köln im Jahr 2042 katholikenfrei?

Die gläubigen Kölner reagieren. Sie treten scharenweise aus der römisch-katholischen Kirche aus. Sogar der ehemalige Missbrauchsbeauftragte des Erzbistums, Oliver Vogt, ist dabei.

Termine zum Austritt beim Amtsgericht Köln sind bis Ende Mai ausgebucht. Am 1. April morgens wird der Juni freigeschaltet. Zuletzt, am 1. März, waren in Köln mittags alle Termine für den Mai belegt. Zwischendurch kollabierte der Justizserver, als 5.000 Menschen gleichzeitig Zugriff begehrten.

Am Reichenspergerplatz kommen die Menschen im Dreiminutentakt dran. Das Personal bei Gericht wurde für die Fließbandarbeit aufgestockt, mit derzeitigem Tempo schafft man etwa 15.000 Austritte im Jahr. Es ist dies „der größte Exodus von Katholiken aller Zeiten“, sagt Kirchenrechtler Thomas Schüller von der Universität Münster. Rechnerisch wäre die Stadt Köln (328.000 KatholikInnen) etwa im Jahr 2042 katholikenfrei. Vielleicht ist Woelki dann immer noch Erzbischof. Allerdings nur von sich selbst.

Bis dahin kündigt er am Dienstag per sofort an: „Keine Akte darf mehr vernichtet werden. Damit breche ich geltendes Kirchenrecht.“ Gemeint sind Verjährungsvorschriften. Alles werde jetzt „umfassend aufgearbeitet“. Sein Verwaltungschef, Generalvikar Monsignore Markus Hofmann, erklärt stolz, schon jetzt hätten „87 Prozent der Pfarreien in den letzten Jahren Schutzkonzepte aufgebaut“. Heißt: In jeder achten Pfarre gibt es nichts davon. Schüller meint: „Woelki stilisiert sich zur Lichtgestalt der Aufklärung“, es sei schlicht unglaubwürdig, dass er selbst so wenig mitbekommen haben will.

Ansonsten hat Stunk-Mitgründer Jürgen Becker längst eine Lösung für die Zeit nach Woelki parat. „Der nächste Kölner Erzbischof darf auf keinen Fall katholisch sein.“ Weihrauchnebel alaaf!

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