Brexit-Verhandlungen ohne Ergebnis: Unterhändler drehen Extrarunde

Überraschend verkünden Ursula von der Leyen und Boris Johnson weitere Gespräche über ein Handelsabkommen.

Eine Katze auf der Straße vor dem Amtssitz des britischen Premierministers

Wohin des Weges? Larry, die offizielle Hauskatze von Downing Street 10 in London, weiß es auch nicht Foto: Alberto Pezzali/ap

BRÜSSEL/LONDON taz | Am Sonntag sollte endgültig Schluss sein, beide Seiten schienen zum „harten Brexit“ bereit. Doch nun wollen die EU und Großbritannien ihre Last-Minute-Gespräche über ein Handelsabkommen doch noch fortsetzen – diesmal ohne neue Frist, obwohl zum Jahresende die britische Mitgliedschaft in EU-Binnenmarkt und Zollunion endet und keiner weiß, wie danach der Handel geregelt sein wird. Es drohen schwere Verwerfungen im Warenverkehr zwischen der EU und Europas zweitgrößter Volkswirtschaft.

„Trotz der Erschöpfung nach fast einem Jahr Verhandlungen, trotz der Tatsache, dass immer wieder Fristen versäumt wurden, glauben wir, dass es verantwortungsvoll ist, jetzt noch die Extrameile zu gehen“, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntag in Brüssel nach einem Telefonat mit dem britischen Premier Boris Johnson. Ihr Statement war kurz, die ähnlich lautende Erklärung Johnsons wenig später kaum länger.

Auch Johnson nahm das Wort von der „Extrameile“ in den Mund und betonte: „Das Vereinigte Königreich wird den Verhandlungstisch nicht verlassen.“ Offenbar will keine Seite für ein Scheitern der Gespräche verantwortlich sein – allein das genügt, um sie weiterlaufen zu lassen.

Eine sachorientierte Begründung für die überraschende Verlängerung nannten weder die EU-Chefin noch der britische Premierminister. Vielmehr betonten beide, die Positionen beider Seiten blieben weit auseinander. Unklar ist, ob die Gespräche vielleicht auf Wunsch der deutschen EU-Ratspräsidentschaft fortgesetzt werden. Kurz zuvor hatte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin für eine Verlängerung der Gespräche ausgesprochen. Jede Möglichkeit, noch zu einem Ergebnis zu kommen, sei hoch willkommen, sagte Merkel.

Zuletzt hatten sich beide Seiten auf einen harten Bruch zur Jahreswende eingestellt. Auf Drängen Frankreichs, Belgiens und anderer EU-Länder hatte die EU-Kommission am Donnerstag eine ganze Reihe von Notmaßnahmen für den „No Deal“ bekanntgegeben. Dazu zählen Pläne für den Schiffs- und Flugverkehr, die Banken oder digitale Dienste. Nach einem ergebnislosen Dinner mit Johnson in Brüssel am vergangenen Mittwoch hatte von der Leyen einen „No Deal“ als wahrscheinlichsten Ausgang bezeichnet. Dies teilte sie auch dem EU-Gipfel am Freitag mit.

Auf den Notfall vorbereitet

In Großbritannien bezeichnete Premier Johnson am Freitag einen „No Deal“ als „sehr, sehr wahrscheinlich“ und gab eigene Notfallmaßnahmen bekannt: unter anderem die Bereitstellung von vier Milliarden Pfund zur Gewährleistung der Lebensmittelversorgung.

Die britische Regierung verkündete außerdem den Einsatz der Kriegsmarine, um nach dem 1. Januar gegebenenfalls gegen fremde Fischerboote in britischen Gewässern vorzugehen. Denn im Fall eines „No Deal“ erlöschen die bestehenden EU-Fischereirechte in den britischen Hoheitsgewässern zum Jahreswechsel. Die Ankündigung wurde am Wochenende von der Boulevardpresse bejubelt, aber Tobias Ellwood, der konservative Vorsitzende des parlamentarischen Ver­tei­di­gungs­aus­schus­ses, nannte sie unverantwortlich.

Zuletzt hatten sich beide Seiten auf einen harten Bruch zur Jahreswende eingestellt

Während sich von der Leyen und Johnson nun beide zur Fortsetzung der Gespräche bekannt haben, sind sie offensichtlich unterschiedlicher Meinung über das mögliche Format. Boris Johnson brachte am Sonntag erneut Direktverhandlungen mit EU-Regierungen ins Spiel. Den Vorschlag, die Gespräche in bilateralen Verhandlungen aus der Sackgasse zu holen, lehnten jedoch schon beim EU-Gipfel am Freitag Kanzlerin Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron ab. Von der Leyen betonte am Sonntag, verhandeln würden die bestehenden Unterhändler.

Hinter den Kulissen gibt es Bewegung. Dies gilt vor allem für die heikle Frage des „Level Playing Field“, also der fairen Wettbewerbsbedingungen. Von der Leyen deutete an, dass man den Briten in dieser Frage entgegenkommen könne.

Gemeint ist offenbar, dass London nicht jede Änderung der Wirt­schafts-, Umwelt- und Sozialgesetzgebung in der EU nachvollziehen muss, wie es die EU bisher verlangt hatte. Im Rahmen einer „managed divergence“ könnten die Europäer vielmehr von Fall zu Fall entscheiden, ob sie zusätzliche Zölle auf britische Waren erheben, die nicht zu denselben Wettbewerbsbedingungen produziert wurden. Ähnlich könnten umgekehrt die Briten vorgehen. Die Frage bleibt, ob eine solche Entscheidung ein Schiedsverfahren voraussetzt.

Vielleicht hat auch das bereits sichtbare Chaos an den Grenzen einen Eindruck gemacht. Nicht nur wegen des Brexit, auch aufgrund von Covid-19 und Weihnachten bauen britische Unternehmen jetzt extra Vorräte auf, was zu verstärktem Verkehr und langen Wartezeiten führt. In manchen Häfen stauen sich die Containerschiffe. Die Autohersteller Honda und Jaguar Landrover mussten aufgrund fehlender Teile die Produktion zwischenzeitlich stoppen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.