Literaturnobelpreis 2020: Auf der Suche nach Weltanspruch
Louise Glück ist eine Nobelpreisträgerin, an deren Rang als Lyrikerin keine Zweifel bestehen. Doch womöglich ist genau das ein Problem.
Glück gewann dafür bereits 1992 einen Pulitzer-Preis. Die Verleihung des bekanntesten amerikanischen Literaturpreises zeigt: Auch wenn es deutschen Leser*innen so vorkommen muss, ist Glück kein Geheimtipp. Im Gegenteil: In den USA gehört Glück zu den großen Namen.
Ihr Verlag, Farrar, Strauß and Giroux, sagt über Glück in einem Werbetext für seinen 2017 erschienen Essayband „American Originality“: „seit fünfzig Jahren ist sie eine überragende Gestalt der amerikanischen Literatur“. Das halbe Jahrhundert ist etwas übertrieben, aber für die letzten dreißig Jahre gilt die Aussage. Louise Glück hat in ihrer Karriere fast alle großen US-amerikanischen Auszeichnungen und Preise für Lyrik erhalten. Von 2003 bis 2004 war sie die United States Poet Laureate.
2012, ein Jahr vor ihrem 70. Geburtstag, hat ihr Verlag sie mit einem Sammelband gefeiert. Ein 630 Seiten starker Klotz von einem Buch, in dem Glücks Entwicklung vom 1968 erschienen ersten Gedichtband „Firstborn“ bis zur 2009 veröffentlichten Pastorale „A Village Life“ nachverfolgt werden kann. Ihr aktuellstes Werk, „American Originality. Essays on Poetry“ ist 2017 erschienen, ihr letzter Lyrikband „Faithful and Virtuous Night“ 2014.
Wenig Begeisterung im Buchhandel
Beim pandemiegebeutelten Buchhandel löst die Verleihung des Literaturnobelpreises an Louise Glück höchstwahrscheinlich wenig Begeisterung aus: Lyrik, kaum erhältlich, dazu auch noch unkontrovers. Schließlich wird sich um die Auszeichnung Glücks kaum so eine hitzige Auseinandersetzung entwickeln wie um Preisträger wie Peter Handke oder Bob Dylan.
Vielleicht haben sich die Mitglieder der Königlich Schwedischen Akademie für Literatur auch deswegen für Louise Glück entschieden: weg von den politischen Kontroversen, weg von Autor*innen, die sich als öffentliche Person ins Handgemenge mit der aktuellen politischen Wirklichkeit begeben. Überhaupt weg aus der Realität, in der auch die Hallen der schwedischen Literatur-Akademie als Jagdgrund sexueller Belästiger und Schauplatz dubioser Deals unter Größen des schwedischen Kulturbetriebs enthüllt worden sind.
Stattdessen endlich zurück zur reinen Literatur, in eine Welt, die sich zwischen eleganter, strenger Form, antiker Mythologie und der metaphysischen Naturanschauung amerikanischer Transzendentalisten bewegt. Zumindest klingt die offizielle Preisbegründung so: „für ihre unverwehselbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht“.
Ausgezeichnet wird eine Lyrikerin, die eine Welt erschafft, in der die Kraft der Sprache bescheidene Blumen wie das Schneeglöckchen in ein Wesen verwandelt, das von den Toten wiederkehrt – und davon erzählt: „Ich rechnete nicht damit zu überleben, / die Erde drückte mich nieder. Ich rechnete nicht damit, / wieder zu erwachen“. (Aus dem Band „Wilde Iris“). Und in der das Leben auf dem Land klingt, als seien wir Zeitgenoss*innen von Hesiod und William Carlos Williams. „Um geboren zu werden, schließt dein Körper einen Pakt mit dem Tod, / und ab diesem Moment, versucht er lediglich zu betrügen“ (Aus: „A Village Life“).
Am Zeitpunkt der Wahl lässt sich zweifeln
Unter ästhetischen Gesichtspunkten lässt sich an der Vergabe des Preises wenig kritisieren. Mit Louise Glück wird eine Lyrikerin ausgezeichnet, an deren Rang als Autorin von Weltliteratur nicht zu zweifeln ist. Woran sich sehr wohl zweifeln lässt, ist der Zeitpunkt ihrer Wahl. Auch wenn man den Impuls verstehen kann, sich aus der surrealen, absurden Gegenwart von 2020 in die „strenge Schönheit“ universeller Werte zurückzuziehen, ist diese Gegenwelt schon wieder weiß, westlich, englischsprachig.
Immerhin vertreten durch eine Frau, deren Lyrik man lange vorwarf, zu bekenntnishaft, zu persönlich, zu partikular – kurz: zu weiblich zu sein. Aber der Preis geht eben auch an eine Schriftstellerin, die sich, wenn auch kritisch, auf ein sehr amerikanisches Konzept von Literatur bezieht.
Ein Konzept, dessen Weiß-Sein die Poetin als Problem deutlich benennt: „Wir sind, bekanntermaßen, eine Nation aus entkommenen Sträflingen, jüngeren Söhnen, verfolgten Minderheiten und Opportunisten. Dieser Ruhm ist lokal und rassistisch beschränkt: Es ist der Mythos des weißen Amerikas von sich selbst. Ganz offensichtlich beschreibt es weder die Erfahrung der ursprünglichen Bewohner Amerikas noch die der schwarzen Amerikaner.“ (Aus: „American Originality“).
Warum den Mitglieder der Akademie auf der Suche nach Literatur mit universellem Anspruch dann doch wieder nur Autor*innen einfallen, die ihnen selbst so ähnlich sehen, bleibt ein Ärgernis – bei aller Freude über die Auszeichnung für Louise Glück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl