LGBTI in der Öffentlichkeit: Küssen nur bewaffnet
Mein Klappmesser habe ich beim Knutschen immer dabei. Unbeschwerte Liebkosungen gibt es für mich nur an Orten, wo sich viele Queers aufhalten.
N ur ein paar wenige Orte gibt es in der Stadt, an denen ich unbewaffnet küssen würde. Orte, an denen ich mein Klappmesser in der Tasche lasse, wenn ich jemanden küsse, der zufällig dasselbe Geschlecht hat wie ich. Mein Klappmesser ist nicht aus Metall, sondern aus scharfen Worten, aus schlagfertigen Comebacks und souveräner Arroganz.
Ich trage es selbst in einer der liberalsten Städte der Welt, dabei wäre ich lieber unbewaffnet. Würde mich lieber in einen Kuss versenken und dabei alles um mich herum vergessen, anstatt das Klappmesser in der Faust zu haben, bereit für einen Spruch von der Seite, der alles kaputt macht.
Nicht alle, aber viele von uns LGBTI haben das Privileg und den Fluch, dass wir in der Lage sind, uns zu verstecken. Uns zu verkleiden, um weniger selten zu den Waffen greifen zu müssen. Den eigenen Gang ein bisschen überwachen, die Stimme und Gestik micromanagen, Hobbys und Kleidung den Erwartungen anpassen. Haarlänge und -mode den geschlechtlichen Erwartungen anpassen. Namen und Pronomen den Erwartungen der anderen anpassen. Das Privatleben geheim halten. Und schon kann man problemlos durchs Leben gehen.
Eine aktuelle Umfrage der Uni Bielefeld hat ergeben, dass ein Drittel der LGBTI am Arbeitsplatz einen Teil ihrer Identität auf eine dieser Arten verstecken – vulgo: ungeoutet sind. Ich höre schon die eine und den anderen sagen, dass das doch ein Fortschritt sei, da immerhin zwei Drittel offen mit ihrer geschlechtlichen oder sexuellen Identität umgingen. Ducken Sie sich vor meinem Klappmesser! Ich finde das leider keinen Fortschritt, weil es nämlich heißt, dass sogar unter den LGBTI, die in der Selbstdefinition gefestigt genug sind, um für eine sozialwissenschaftliche Studie überhaupt erreichbar zu sein, immer noch ein Drittel keine Lust hat, am Arbeitsplatz – wo man fast die Hälfte seiner wachen Stunden verbringt – zu sein, wer sie sind.
Und, wessen Schuld ist das nun? (Ja, doch, ich finde „Schuld“ ein sehr produktives Konzept). Die der Queers? Sind wir dafür verantwortlich, mehr Selbstbewusstsein zu haben? Weil 2020 ist und wir die Ehe für alle und Antidiskriminierungsgesetze haben? Selbst als LGBTI-Person mit Selbstbewusstsein kommt immer wieder der Moment, wo es schlicht einfacher ist, nichts zu sagen, mitzumachen, so zu sein, wie es angenehmer für die anderen ist. Nicht alle haben ein Klappmesser, und manche*r wird auch müde, es einzusetzen und immer wieder zu schleifen.
Ich persönlich fühle mich am wohlsten mit mir, wenn ich mir sicher sein kann, dass auch andere für mich zu den Waffen greifen würden. Deswegen sind die paar Orte, wo ich selbstvergessen in der Öffentlichkeit küssen kann, auch Orte, wo sich viele Queers aufhalten. Fragen Sie sich doch mal, ob Ihr Arbeitsplatz, Ihre Straße, Ihr Verein oder Ihre Gemeinde so ein Ort ist. Und wenn nicht, wie Sie das ändern können.
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