Hongkongs dritte Welle kann Carrie Lam nützen

Das Coronavirus wütet in der einstigen britischen Kolonie stärker denn je. Die Peking-hörige Regierung könnte die Pandemie für ihre politische Agenda gebrauchen

Mitarbeiter der Hongkonger Umwelt- und Lebensmittelhygiene reinigen und desinfizieren vor einer Woche einen sogenannten Nassmarkt Foto: May James/dpa

Aus Peking Fabian Kretschmer

Nachdem das von Peking installierte Sicherheitsgesetz die Protestbewegung in Hongkong in Schockstarre versetzt hat, gelten die für 6. September geplanten Parlamentswahlen als letzte große Chance, Opposition gegenüber Chinas Einflussnahme auszudrücken. Eine Mehrheit der Sitze wäre eine öffentlichkeitswirksame Ohrfeige gegen die kommunistische Staatsführung. Und tatsächlich scheint dies im Bereich des Möglichen: Bei den Kommunalwahlen im November erzielten die Peking-Kritiker einen historischen Erdrutschsieg und Anfang Juli mobilisierte die Demokratiebewegung unerwartet viele Wähler zu informellen Vorwahlen.

Nun jedoch erwägt Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam laut der Hong Kong Economic Times, die Wahlen zu verschieben. Bisher hat sich die Regierung noch nicht zu dem unbestätigten Bericht geäußert. Das Coronavirus würde jedoch einen perfekten Vorwand für eine solche Entscheidung liefern. Bis Anfang Juli hatte Hongkong den Erreger noch voll unter Kontrolle. Drei Wochen lang meldeten die Gesundheitsbehörden keine lokale Infektion mehr. Seitdem jedoch gab es rund 1.500 neue Fälle, am Montag gar 145 an einem Tag. Erneut hat die Regierung strenge Maßnahmen angeordnet: Die meisten Restaurants und Kneipen mussten schließen, öffentliche Zusammenkünfte mit mehr als zwei Personen sind verboten, überall gilt Maskenpflicht.

Nach systematischem Tests der Bevölkerung zeichnete sich ab, dass ein blinder Fleck der Regierung für die erneute Ausbreitung des Virus verantwortlich ist: So wurden zwar Einreisende nach Hongkong kategorisch auf das Virus getestet und in 14-tägige Quarantäne geschickt. Doch blieben etwa Crews von Flugzeugen und Schiffen da weitgehend ausgenommen. So blieben zwischen April und Mitte Juli über 160.000 Ankömmlinge von den Quarantäne- und Testmaßnahmen verschont und Covid-19 breitete sich aus.

Streng genommen ist es für Hongkong schon die dritte und bisher schwerste Welle. Bereits im Januar hatte ein Chinese aus Wuhan das Virus nach Hongkong gebracht. Darauf schloss die Sonderverwaltungszone rasch die Grenze zu Festlandchina. Im März kehrten dann viele Studenten von ihren Unis im Ausland heim, was die Infektionen erneut ansteigen ließ.

Die jetzige Infektionswelle zeigt sich gleich in mehreren Ländern im Asien-Pazifik-Raum wie etwa in Japan und Australien, die die Coronapandemie zuvor im Griff zu haben schienen. In Hongkong kommt jedoch noch eine politische Komponente hinzu: Die strengen Beschränkungen in Bezug auf öffentliche Versammlungen und nun eine mögliche Verschiebung der Parlamentswahlen werden von Kritikern als politischer Missbrauch angeprangert.

„Die Pandemie als Ausrede zu nutzen, die Wahlen zu verschieben, ist eine Lüge“, schreibt Demokratie-Aktivist Joshua Wong bei Twitter: „Hygienemaßnahmen können das Infektionsrisiko senken. Genau das haben wir gemacht während unserer Vorwahlen.“ Ebenfalls haben bereits andere Staaten trotz der Pandemie erfolgreich Wahlen abgehalten, darunter Südkorea und die Mongolei.

Regierungschefin Lam ist in letzter Zeit noch unbeliebter geworden. In der aktuellen Umfrage eines der University of Hong Kong nahestehenden Meinungsforschungsinstituts gaben nur noch 18 Prozent der Befragten an, ihre Politik zu unterstützen – vor zwei Wochen waren es noch 23 Prozent. Knapp drei Viertel aller Hongkonger lehnen hingegen die Peking-treue Politikerin ab.

Über das Wochenende wurden rund ein Dutzend führender Köpfe der Peking-kritischen Opposition zu einem Verhör geladen. Dabei wurden ihre politischen Ansichten daraufhin überprüft, ob sie konform seien mit dem von Peking eingeführten Sicherheitsgesetz. Joshua Wong musste demnach einen öffentlichen Brief schreiben, in dem er sich von einer möglichen Unabhängigkeit Hongkongs von Festlandchina distanzierte – und er musste ebenfalls versprechen, die Vereinigten ­Staaten nicht mehr zu Sanktio­nen gegen Hongkong aufzufordern.

Ob Wong dennoch bei den Wahlen antreten darf – ganz gleich ob im September oder später –, scheint ungewiss. Bei den Kommunalwahlen im November war er von den Behörden ausgeschlossen worden.