Corona-Ausbruch in Göttingen: Das fantasierte Fremde

In Göttingen scheint Deutschland gerade seinen Rang als Weltmeister der Corona-Bekämpfung aufs Spiel zu setzen. Schuld sind natürlich die anderen.

Blick auf das Iduna-Zentrum in Göttingen

Von saftig-grünen Baumästen wird das Iduna-Zentrum in Göttingen umrahmt Foto: Swen Pförtner/dpa

Schlauchboote, Techno und kein Abstand am Pfingstsonntag auf dem Berliner Landwehrkanal. Die Clubszene feierte, als gäbe es kein Corona. Ein bisschen Kritik erntete er schon, der „lustige Schlauchboot-Rave“, wie Marietta Slomka, Moderatorin des „heute journals“, ihn, spürbar um Ironie bemüht, bezeichnete, als sie zu einer viel größeren Frechheit hinleitete.

Denn die Einkehr des Normalen im andauernden Ausnahmezustand hat ihren Preis, politisch und psychologisch. Die Bilder vom Berliner Landwehrkanal kann derjenige als Lausbubenstreich ertragen, der weiß, wo die Volksgesundheit tatsächlich bedroht ist. So folgt im „heute journal“ am Mittwochabend auf die „Corona-Ignoranten unter den Hauptstadthipstern“ ein Beitrag aus Göttingen, der mit den Worten „Polizeischutz für Journalisten“ beginnt.

Zu sehen ist ein trister Gebäudekomplex, dessen Anblick in einer Kameraeinstellung, eingerahmt von saftig-grünen Ästen, das Gegenteil von Lebensfreude und Gesundheit ausstrahlt. Eingeblendet werden auch grau-kalte Balkonfassaden mit Menschen, deren Gesichter nur verschwommen zu sehen sind und die fast geisterhaft wirken. Ist das der Ort, an dem dunkle Mächte das Virus gezüchtet und mit hinterlistigen Motiven in die Welt gesetzt haben? Nicht China, sondern Göttingen?

Fast. Das bedrohliche Gebäude heißt Iduna-Zentrum, ein Hochhauskomplex am nördlichen Innenstadtrand. Hier soll bei Feierlichkeiten zum Ende des Fastenmonats Ramadan ein neuer Infektionsherd entstanden sein.

Nur eine Projektion des Fremden

Die Infektions­dynamik soll auf eine Shishabar übertragen worden sein, so die örtlichen Behörden. Bisher sind hier mehr als 100 Neuinfektionen bekannt geworden. Eine Konsequenz: Alle Schulen in Göttingen wurden bis zum Wochenende geschlossen. Und alle 700 Hochhausbewohner:innen sollen getestet werden. So weit, so verständlich. Dass sich nach den einsetzenden Lockerungen solche Infektionsherde bilden können, war erwartbar. Neu ist auch nicht der Charakter des Vorfalls, denkt man an die Corona-Infizierten nach Gottesdiensten in Frankfurt am Main und Bremerhaven, wo mehr als 250 Neunfektionen gemeldet wurden.

Sind diese Otto­normaldeutschen so schlecht, dass sie nicht ein einziges Mal der rassis­ti­schen und sozial­chauvinis­ti­schen Versuchung wider­stehen können?

Was sich faktisch sehr ähnelt, wird jedoch unterschiedlich rezipiert. Während die einen zumindest Christen sind (wenn auch teils russischsprachige), heißt es über das Göttinger Hochhaus: „Großfamilie“, „Familienverbände“, „Shishabar“, „mehrheitlich aus dem früheren Jugoslawien“.

Die ästhetisch allzu bekannt angestrengte soziale Tristesse in genannten Bildern tut ihr Übriges. Und wenn es dann auch noch ein paar unter den 700 Bewohner:innen gibt, die sich bei Tests „nicht kooperativ“ zeigen oder sogar pöbeln und mit Eiern und Tomaten werfen, wie es ein Reporter dem „heute journal“ erzählt, dann passt das umso besser in diese Projektion des fantasierten Fremden. Klar, dass da die Göttinger Krisenstableiterin, eine anständige Frau mit bunten Eulen auf dem Mundschutz, der Presse erklärt, dass man da jetzt durchgreifen werde. Dabei fällt die Darstellung im ZDF noch relativ moderat aus, wenn man auf den Ton der üblichen Hetzer der Nation horcht. Moderat – oder eben durchschnittlich, mittelständisch, deutsch.

Nichtort der Deutschen

Sind diese Ottonormaldeutschen denn so schlechte Menschen, dass sie nicht ein einziges Mal der rassistischen und sozialchauvinistischen Versuchung widerstehen können? Es geht hier nicht um gut oder böse, sondern um ein psychologisches Bedürfnis: Die Coronabeschränkungen werden größtenteils gelockert, bevor die Gefahr des Virus, von Anfang an eine unsichtbar-abstrakte, gebannt ist.

Die neue Normalität, die folgt, offenbart sich als widersprüchliche Situation, was latentes Unbehagen auslöst – spüren die Menschen doch, dass das alles irgendwie nicht zusammenpasst. Mit diesem Unbehagen kann man aber durchaus umgehen, wenn man die Gefahr von sich wegschiebt, dorthin, wo man selbst nicht ist: in das heruntergekommene Hochhaus als Metapher für sozial abgehängte, pöbelnde Ausländer, die sich nicht an Regeln halten, den Nichtort des Ottonormaldeutschen.

Und wer die Gefahr auslagert, schickt die Ursache gleich mit weg: „Dass das, was wir geschaffen haben, innerhalb von kurzer Zeit möglicherweise wieder kaputt gemacht wird“, sagt ein Mann dem „heute journal“ über das Hochhaus. Wenn wir jetzt doch alle krank werden, dann wegen dieser Barbaren. Willkommen in der schönen neuen Normalität.

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