Übersterblichkeit durch Corona: 160.000 Tote allein in Europa

Die Corona-Pandemie wirkt offenbar gravierender als bekannt. Anscheinend werden in Europa nur drei Viertel aller Covid-19-Opfer erkannt.

Ein kleines weisses Kreuz auf Friedhof

Auf einem Mailänder Friedhof grenzen kleine Kreuze neue Bereiche für Bestattungen ab Foto: Claudio Furlan/dpa

BERLIN taz | Die Zahl der Todesopfer während der Coronaepidemie ist offenbar deutlich größer als bisher bekannt. Das geht aus Grafiken des European Mortality Monitoring (Euromomo) hervor, das aktuelle Sterbezahlen aus 20 europäischen Ländern zusammenträgt. Die daraus erstellten Kurven schießen nun exorbitant in die Höhe.

Darauf beruhende Rechnungen der taz zeigen, dass seit Ende Februar in diesen Ländern schon mindestens 160.000 Menschen mehr gestorben sind als zu dieser Jahreszeit üblich. Die Johns Hopkins University, die eine weltweit Statistik zur Corona-Epidemie führt, hatte am Montagmorgen für die beteiligten Ländern hingegen erst gut 117.000 Covid-19-Tote gezählt. Der Verdacht liegt also nahe, dass nur drei Viertel der Pandemie-Opfer auch erkannt werden.

Die Diskrepanz von mehr als 40.000 Toten kann man nicht komplett dem Coronavirus anlasten. Es ist gut möglich, dass einige Opfer andere Krankheiten wie etwa Herzinfarkte hatten, die aufgrund der Überlastung der Krankenhäuser nicht mehr wie üblich behandelt werden konnten. Auch können erhöhte Sterberaten durch Nebeneffekte des Lockdown nicht komplett ausgeschlossen werden. Dennoch lässt der massive Anstieg der Zahlen bei Euromomo vermuten, dass die tatsächliche Zahl der Pandemieopfer um viele Zehntausend höher liegt als bisher bekannt.

Wer das Ausmaß der Pandemie mit der Zahl der bestätigten Infizierten oder der als Covid-19-Tote Klassifizierten ermitteln will, steht stets vor dem Problem, dass eine Dunkelziffer bleibt, die die Hochrechnungen verzerrt. Bei der Übersterblichkeit nähern sich die Statistiker dem Problem von der anderen Seite. Sie ermitteln erst anhand von tatsächlichen Todeszahlen Auffälligkeiten und suchen dann einen Grund dafür. So können Auswirkungen von Epidemien und anderen Katastrophen im Nachhinein berechnet werden.

So wurde zum Beispiel anhand der auffällig hohen Übersterblichkeit im Frühjahr 2018 errechnet, dass der damaligen Grippewelle bis zu 25.000 Menschen allein in Deutschland zum Opfer gefallen sein könnten, obwohl nur gut 1.600 Influenzafälle tatsächlich diagnostiziert wurden.

Gravierender als jede Grippewelle

Wegen dieser hohen Zahl hatten viele Kritiker die jetzigen Lockdown-Maßnahmen infrage gestellt. Mittlerweile zeigt sich aber sehr deutlich, dass die Corona-Pandemie gravierender ist als selbst die härtesten Grippewellen der vergangenen Jahre. Während es 2017 und 2018 in den Euromomo-Zahlen maximal zu einer Übersterblichkeit von 10.000 pro Woche kam, liegt sie in diesem April mehr als dreimal so hoch.

So wurden in der 14. Kalenderwoche 86.380 Tote registriert, üblich wären nur 54.984 gewesen. Es kamen in der Woche Ende März/Anfang April also 31.000 oder 57 Prozent mehr Menschen ums Leben, als in normalen Zeiten erwartbar gewesen wäre. Tatsächlich muss diese bereits festgestellte Exzessmortalität in den nächsten Tagen sogar noch nach oben korrigiert werden, da laut Euromomo noch gar nicht alle Fallzahlen der letzten Wochen vorliegen.

Besonders betroffen sind der Süden und Westen Europas. Italien, Frankreich, Spanien, Belgien, Großbritannien und den Niederlanden wird von Euromomo aktuell eine „extrem hohe Übersterblichkeit“ attestiert – die höchste Stufe. Dahinter liegt Schweden mit der Stufe „sehr hoch“. In Norwegen, Finland, Estland, Griechenland oder auch Österreich hingegen wird derzeit gar keine Übersterblichkeit registriert.

Zahlenwüste Deutschland

Deutschland ist ein Sonderfall in dieser Statistik. Zwar ist auch hier keine Übersterblichkeit zu erkennen. Das könnte aber auch daran liegen, dass es keine bundesweiten aktuelle Zahlen gibt. Sie werden schlichtweg nicht erhoben. Bei Euromomo fließen nur Statistiken aus Hessen und Berlin ein.

Diese beiden Bundesländer sind laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts bisher in der Corona-Epidemie relativ glimpflich davongekommen. So gab es in Bayern – umgerechnet auf die Einwohnerzahl – bisher zwei- bis dreimal so viel Corona-Tote wie in Hessen. „Wenn man wenig misst, stellt man wenig fest“, kritisierte der Virologe Alexander Kekulé daher im Podcast des MDR. Hessen und Berlin hält er als alleinige Messgrundlage für die aktuelle Entwicklung für nicht geeignet.

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