Corona-Eindämmung in Schweden: Holz- oder Königsweg?

In Schweden sind viele Menschen an Covid-19 gestorben. Doch die Regierung bleibt bei ihrem liberalen Kurs – und bekommt Lob von der WHO.

Menschen halten Abstand an einem See

Vorbildlich am Hellasgarten am Stadtrand von Stockholm: „Vermeiden Sie Gedränge“ Foto: TT NEWS AGENCY

STOCKHOLM taz | Ja, das ist fürchterlich“, gestand Anders Tegnell ohne Umschweife ein. Tegnell ist Staatsepidemiologe der Gesundheitsbehörde, die mit ihren Empfehlungen den Coronakurs der schwedischen Regierung steuert. Letzte Woche sagte er in einem TV-Interview: „Mit solchen Zahlen haben wir nicht gerechnet.“ 2.679 Coronatote war der Stand am Sonntag. In Relation zur Bevölkerungszahl sind das über dreimal so viel wie in Dänemark oder beinahe doppelt so viele wie in Baden-Württemberg oder Bayern.

Zwar findet man bei einem Ländervergleich auch schnell ein Dutzend Staaten mit ähnlichen oder höheren Todesraten. Aber das ist für Schweden kein Maßstab. Man strebt danach, zu den „Guten“ zu gehören. Und diesmal dümpelt man eindeutig im falschen Drittel der Statistik. Kein Wunder, meinen da vor allem manche ausländische Medien: Das Land habe eben mit seinem Laisser-faire-Kurs Vabanque gespielt. Bebildert wird das gern mit Fotos, die ein Gedränge in den Außenbereichen von Restaurants zeigen.

Solches Gedränge gibt es. Vereinzelt. Es entspricht nicht den geltenden Richtlinien, deshalb werden von den kommunalen Aufsichtsbehörden auch regelmäßig Lokale geschlossen, die sich nicht an die Vorschriften halten. Und solche Szenen sind nicht repräsentativ für Schweden.

„Nichts kann weiter weg von der Wahrheit sein“ als die Meinung, Schweden habe zur Eindämmung des Virus nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen, konstatierte vergangene Woche auch Michael Ryan, Direktor des „Health Emergencies Programme“ der WHO. Im Gegenteil sei Schweden dann, wenn man eine Normalität ohne Lockdown erreichen wolle, „in vielerlei Hinsicht ein Zukunftsmodell“.

Übersterblichkeit Als verlässlicher Faktor für die Folgen von Epidemien und anderen Katastrophen gilt die sogenannte Übersterblichkeit. Sie gibt an, wie viele Menschen mehr als saisonal üblich gestorben sind. Es wird hier also nicht mit Prognosen, sondern mit tatsächlichen Ergebnissen gerechnet. Das European Mortilty Monitoring (Euromomo) sammelt diese Zahlen aus 20 europäischen Staaten. Seit Ende März registriert das Institut einen „gravierenden Anstieg der Gesamtmortalität“, vor allem wegen hoher Sterberaten bei den über 65-Jährigen in einigen der beteiligten Länder. Laut den vorläufigen Zahlen sind im April in den 20 Staaten mindestens 100.000 Menschen mehr gestorben, als in dem Monat üblich gewesen wäre.

Schweden Für das

skandinavische Land hat Euromomo aktuell eine „sehr hohe Übersterblichkeit“ errechnet. Es rangiert damit genau wie Frankreich in der zweithöchsten von sechs Stufen. Darüber in der höchsten Klasse „extrem hohe Übersterblichkeit“ stehen nur England, Spanien und Belgien.

Deutschland: Hier werden bundesweite Sterbezahlen nicht aktuell erhoben. Euromomo wertet nur Zahlen aus Hessen und Berlin aus. Dort lässt sich bisher keine Übersterblichkeit erkennen. (ga)

Schweden kam bisher mit einem absoluten Verbot aus: dem von Veranstaltungen von mehr als 50 Personen. Für die beiden anderen, ein Besuchsverbot in Altenpflegeeinrichtungen und das Gebot des Distanzunterrichts an Hochschulen und den Klassen 10 bis 12 der Gymnasien, sind Ausnahmen möglich. Haben die offenen Schulen, Kitas, Restaurants und Geschäfte in wesentlichem Umfang die Ausbreitung des Virus begünstigt?

Die Gesundheitsbehörde geht nicht davon aus. Vor allem angesichts der insoweit bestehenden Hygiene- und Abstandsempfehlungen. Konkrete Studien fehlen. Man will daher aufmerksam verfolgen, wie sich in den nächsten Wochen die Zahlen in den Ländern entwickeln werden, die jetzt die Restriktionen für Bildungseinrichtungen und den Handel wieder lockern und sich damit der Situation in Schweden annähern.

Eine womöglich nicht ausreichende Versorgung von Coronakranken oder fehlende Intensivpflegekapazitäten könnten nicht der Grund der hohen Todeszahlen sein, betont Björn Eriksson, der Chef der Gesundheitsvorsorge der Region Stockholm. Die regulären Kapazitäten hätten immer ausgereicht. Landesweit waren in der vergangenen Woche 30 Prozent der für Coronakranke reservierten Intensivpflegeplätze frei, in manchen Krankenhäusern zwei Drittel. Schwedens R-Zahl ist seit dem 11. April nicht mehr über 1,0 geklettert, aktuell liegt sie bei 0,85.

Altenpflegesektor und MigrantInnen trifft es hart

Analysiert man die Todeszahlen genauer, fallen zwei Schwerpunkte auf: Die Altenpflege und Stadtviertel mit hohen Anteilen migrantischer Wohnbevölkerung sind deutlich überrepräsentiert. Beide Gruppen seien durch die hierfür Verantwortlichen nicht ausreichend geschützt worden, meint auch Anders Tegnell.

Die Rate der Coronatoten liegt in Stockholmer Vororten wie Rinkeby-Kista und Spånga-Tensta, die einen Anteil zwischen rund zwei Dritteln und drei Vierteln im Ausland geborenen MitbürgerInnen haben, mehr als doppelt über dem Hauptstadt-Schnitt und vierfach über den Raten einiger Villenvororte.

Viele wohnen in großer Enge. In der offiziellen Statistik gelten 38 Prozent der Wohnungen als „überbelegt“. Und hier wohnen in hohem Maße Menschen, die den Servicesektor Stockholms in Gang halten: In Pflegeberufen, im Transport- und Reinhaltesektor, im Handel, im Gaststätten- und Übernachtungsgewerbe.

Während in Stockholm der Großteil der Verwaltungsangestellten beim Coronaausbruch schnell ins Homeoffice wechseln konnte, drängten sich die PendlerInnen aus Rinkeby & Co weiter täglich in U-Bahnen und Bussen. Auf dem Weg zu und von Arbeitsplätzen, bei denen ständiger Kontakt mit vielen anderen Menschen Alltag ist. Ideale Voraussetzungen für Covid-19, sich zu verbreiten.

Obwohl sich die Gefahr schon früh abgezeichnet hatte – von den neun ersten Coronatoten Stockholms waren allein sechs Schweden-Somalier –, dauerte es viel zu lange, bis Politik und Behörden mit gezielten Aufklärungskampagnen in die Gänge kamen und Angebote für in besonderer Enge lebende Familien entwickelten. In den Bereitschaftsplänen habe man diese Menschen anscheinend schlicht vergessen, vermutet der Epidemiologe und Arbeitsforscher Svenn-Erik Mamelund.

Die Überrepräsentation des Altenpflegesektors „wundert mich überhaupt nicht“, sagt Lars Lindberg, ein Stockholmer Ex-Sozialchef. Seit Jahrzehnten wird dieser Sektor kaputtgespart. Er wurde zunehmend von Privatisierung und Profitdenken geprägt. Ein Viertel der 275.000 Beschäftigten in der stationären und ambulanten Altenpflege arbeitet mit zeitlich befristeten Stundenverträgen. Sie versorgen ein Fünftel der schwedischen Bevölkerung über 65 Jahren.

Man kann es den Beschäftigten, denen das Krankengeld nur Teile des Lohneinkommens ersetzt, kaum verdenken, wenn sie sich mit Erkältungssymptomen oder solchen bei Familienangehörigen zur Arbeit schleppen. Sie können es sich einfach nicht leisten, dem Appell der Regierung zu folgen, in so einem Fall zu Hause zu bleiben.

Zusammen mit fast vollständig fehlenden Tests und unzureichender Versorgung mit Schutzkleidung ergaben diese Arbeitsbedingungen eine Kombination, die dem Virus das Tor in die Altenpflege weit öffnete. „Der Ausverkauf unseres Sozialwesens hat sich bitter gerächt“, sagt Lindberg. „Wir haben ein Billiglohnproletariat bekommen, wo wir gut ausgebildetes und fest angestelltes Personal bräuchten“, äußerte Arbeitsmarktministerin Eva Nordmark. In der vergangenen Woche beschloss die Regierung endlich die Krankengeldregelungen für dieses „Billiglohnproletariat“ zu ändern.

Eigentlich solle man sich nicht „blind sehen“ an täglichen Ländervergleichen bei Todeszahlen, meint Anders Tegnell. Jedes Land rechne eben anders, Schweden besonders penibel. Nicht nur bekräftigte, auch bloß vermutete Coronatodesfälle landen in der Statistik. Und da ist dann auch die Frage, an welcher Stelle des Marathonlaufs der Bekämpfung von Covid-19 sich ein Land befindet, meint die Gesundheitsbehörde.

Portrait von Anders Tegnell

Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell Foto: TT NEWS AGENCY

Es sei ein laufender Prozess, der noch lange andauern werde und bei dem jedes Land ein anderes Stadium erreicht habe, zu dem die Todesfälle eben in Relation gesetzt werden müssten. Man hofft darauf, für das jeweilige Stadium mittlerweile einen einigermaßen sicheren Orientierungspunkt zu haben: die mit Hilfe von Antikörpertests ermittelte tatsächliche Infektionsrate der Bevölkerung.

Der hoffnungsvolle Anti-Körper-Test

Was Schweden angeht, laufen derzeit Testreihen mit einem an der Stockholmer Technischen Hochschule KTH entwickeltem Antikörpertest, der als „nahezu hundert Prozent zuverlässig“ bezeichnet wird. Ein bereits veröffentlichter Teiltest konstatierte bei 20 Prozent der Untersuchten Antikörper: Sie hatten also – nahezu durchweg ohne Symptome – eine Covid-19-Erkrankung durchlaufen. Aufgrund weiterer Tests rechnet die Gesundheitsbehörde noch vor Mitte Mai für Stockholm mit einem Anteil von 25 Prozent der Bevölkerung, die bereits Antikörper entwickelt haben könnten.

Erweisen sich solche Zahlen als repräsentativ, könnte das bezüglich Schweden für eine wesentlich höhere „Durchseuchungsrate“ sprechen als die in anderen Ländern. Deutschland bewege sich bei dieser Rate „im einstelligen Prozentbereich“, meinte RKI-Präsident Lothar Wieler vor einigen Tagen. Ein Antikörpertest des finnischen Gesundheitsforschungsinstituts THL in Helsinki ergab vergangene Woche 2 Prozent.

Im Vergleich zu Schweden würde man eine Infektionsspitze erst wesentlich später erreichen, schätzt ein aktueller Rapport. Die Konsequenz wären längere negative Auswirkungen auf das Gesundheitswesen und auf die Wirtschaft. Und eine Erholung werde ebenfalls länger auf sich warten lassen. „Es wurde mehr gebremst, als wir dachten“, sagte THL-Gesundheitssicherheitschef Mika Salminen in einem Interview: „Das ist der negative Effekt unserer Restriktionen.“

Jan Albert vom Karolinska Institut

„Ein Lockdown lässt das Virus nicht verschwinden“

Liegt Schweden also nur „weiter vorn“? Bei den Infektionsraten und deshalb auch den Todesfällen? Ein Lockdown lasse das Virus ja nicht verschwinden, betont Jan Albert, Professor für Infektionsschutz am Stockholmer Karolinska Institut. „Die Fälle tauchen einfach nur später auf“, sagt er.

Und Paul Franks, Epidemiologe an der Universität Lund, hält es für denkbar, dass sich die Todeszahlen der Länder mit strengen Abschottungsmaßnahmen mit denen der „liberaleren“ am Ende treffen könnten. Eine realistische Annahme? Tegnell will sich nicht an solchen Spekulationen beteiligen: „Irgendwann können wir Bilanz ziehen. In ein oder zwei Jahren.“

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