Coronavirus in Belgien: Wenig Masken, viele Tote

In keinem Land sterben, gemessen an der Bevölkerung, so viele Menschen an Covid-19 wie in Belgien. Jetzt kommen Lockerungen – und vielleicht Streiks.

Ein menschenleerer Platz in Brüssel

Der leerste 1. Mai seit dem Zweiten Weltkrieg: Grand Place, Brüssel Foto: Francois Misser

BRÜSSEL/SCHAERBEEK taz | Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Brüssel keinen so traurigen 1. Mai erlebt. Die traditionellen Maiglöckchen-Verkäufer sind fort – man hat ihnen Geldstrafen von 750 Euro angedroht, sollten sie wie sonst ihre Blumensträuße anbieten. Der Große Platz von Brüssel ist am Vormittag völlig leer, eine einzelne Joggerin ausgenommen. Nur die „Fritkots“, die Frittenbuden, haben geöffnet.

Nirgends auf der Welt sind, gemessen an der Bevölkerungszahl, so viele Menschen an Covid-19 gestorben wie in Belgien – 68 pro 100.000 Einwohner, insgesamt bis Sonntag 7.844 Tote, mehr als im siebenmal größeren Deutschland. Die Behörden sagen, da seien anders als in anderen Ländern auch bloße Verdachtsfälle aus Altenheimen mitgezählt – dennoch liegt dieser Rekord wie eine Last auf dem Land.

Am 4. Mai sollen nun erste Lockerungsmaßnahmen in Kraft treten. Bislang befand sich Belgien bei der Schärfe der Corona-Maßnahmen irgendwo zwischen Deutschland und Frankreich. Anders als in Frankreich sind die Parks nicht geschlossen, und wer vor die Tür will, muss keinen schriftlichen Passierschein mit Datum und Uhrzeit, Ziel und Bewegungsgrund mitführen.

Doch sollen die Menschen ihre Gemeinde nicht verlassen – und Brüssel besteht aus 19 separaten Gemeinden. Kontrolliert werden vor allem Autofahrer. Neulich am Place Collignon in Schaerbeek erhielt ein Fahrer aus einer anderen Gemeinde ein Bußgeld von 135 Euro. Eine Frau an einer Straßenbahnhaltestelle wurde ebenfalls bestraft, weil die Polizei ihren Reisegrund nicht für triftig hielt. Fußgänger und Radfahrer kommen meistens davon.

In den Parks hingegen dürfen sich die Leute drängeln und manche Spaziergänger haben nicht einmal ihre Hunde im Griff. Abstandsregeln? Na ja.

Höchste Zeit für Lockerung

Ähnlich verhält es sich im kongolesischen Stadtviertel Matonge. „Die Polizei guckt nicht mal nach, man könnte meinen, dass es Lockdown-Privilegien gibt“, mault eine Anwohnerin in Ixelles. Ein US-Universitätsprofessor, der in Brüssel festsitzt, fühlt sich an den letzten autofreien Tag im September erinnert, als Radfahrer und Fußgänger sich ungehemmt den öffentlichen Raum wieder aneigneten.

Es ist höchste Zeit, dass sich die Lage wieder ändert, denn die Leute halten die Regeln immer weniger aus. Schon am 11. April gab es Unruhen in Anderlecht im Süden von Brüssel, wo Jugendliche die Polizei für den Tod eines 19-jährigen Motorradfahrers auf der Flucht vor einer Polizeikontrolle veranwortlich machten. Viele Jugendliche in ärmeren Vierteln leben mit ihren Großfamilien in engen Sozialwohnungen ohne Internetanschluss – kein Wunder, dass sie ständig draußen sind.

Erste anonyme politische Plakate tauchen auf: „Big Corona Is Watching You“

Der Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan am 24. April führte allerdings zu keinerlei Zwischenfällen in den üblichen Brennpunkten Molenbeek und Schaerbeek.

Die Stimmung ist schlecht, weil die Leute die Härte der Zwangsmaßnahmen auf Fehlentscheidungen der Behörden zurückführen. Wieso ließ Gesundheitsministerin Maggie De Block 6 Millionen teure FFP2-Schutzmasken zerstören, weil ihr Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen war, ohne sie zu ersetzen? Wieso hat die Regierung 284 Exportlizenzen für Masken erteilt, unter anderem nach Monaco, während sie in Belgien selbst Mangelware sind?

Und dient die mögliche Einführung einer Tracing-App auf Smartphones nicht eher der verstärkten staatlichen Kontrolle? In Schaerbeek tauchen erste anonyme politische Plakate auf: „Big Corona Is Watching You“ steht auf einem, auf einem anderen: „Ich kämpfe lieber für das Leben, als mich einzuschließen“. In Saint-Gilles ist zu lesen: „Der Kapitalismus ist das Virus“.

Manneken Pis mal mit und mal ohne Maske

In diesem Kontext können die Belgier jetzt aufatmen, sofern sie dabei eine Maske tragen: Ab Montag sind Straßenbahnen und U-Bahn wieder ohne Einschränkung nutzbar, aber mit Maskenpflicht für alle über 12-Jährigen. Auch einige Läden öffnen wieder, zum Beispiel für Masken – die meisten Geschäfte öffnen erst ab 11. Mai. Sport zu zweit ohne Kontakt, wie Kajakfahren oder Angeln oder auch Tennis, wird wieder erlaubt.

Ab dem 18. Mai kommen Friseure und private Versammlungen von bis zu zehn Menschen dran. Schulen und Strände werden wieder geöffnet. Bars und Restaurants allerdings müssen bis zum 8. Juni warten, dramatisch in einem Land mit über 1.000 Biersorten.

Mangel an Masken ist das größte Hindernis. Die Regierung hat versprochen, dass alle Bürger Masken bekommen, und manche Städte wie Lüttich setzen das um, aber in anderen wie Brüssel ist es noch nicht so weit. Nur sechs von zehn Belgiern sind mit Masken ausgestattet. Nicht einmal der berühmte Manneken Pis, Symbol Brüssels in der Welt, trug am 1. Mai eine Maske. Vermutlich ein Kommunikationsproblem.

Zum Glück füllen die türkischen Einzelhändler die Versorgungslücken, nicht nur bei Masken, auch bei Gummihandschuhen und ähnlicher Schutzausrüstung.

Ein besonderes Problem wird sofort aktuell. Laut Verordnung dürfen ab jetzt höchstens 25 Fahrgäste in einer Straßenbahn sitzen und höchstens 19 in einem Bus. Die Gewerkschaft des Fahrpersonals in Wallonien findet diese Obergrenzen zu hoch und fordert jeweils 20 und 12. Die Freigabe des öffentlichen Nahverkehrs könnte mit einem Streik beginnen.

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