Obachlosigkeit in Corona-Krise: Zeltplätze gefordert

Kaum noch Spenden, Tafeln dicht, Angst vor Ansteckung in engen Notunterkünften: Gerade Wohnungslose brauchen in der Corona-Krise mehr Hilfe.

Ein Mann steht mit erhobenen Händen vor Polizisten in Schutzanzügen.

Behandelt, „als wären sie das Virus persönlich“: Obdachlose leiden besonders unter Corona Foto: Luca Field/imago

BOCHUM taz | „Bleibt zu Hause“, so der Rat von PolitikerInnen und MedizinerInnen an die Bevölkerung. So soll die Ausbreitung des Coronavirus verlangsamt werden. Doch wo bleiben Wohnungslose? Sie, die zu den Schwächsten der Gesellschaft gehören, geraten nun noch stärker unter Druck. „In den Fußgängerzonen werden Wohnungssuchende angeschaut, als wären sie das Virus persönlich“, sagt Iris Rademacher vom Düsseldorfer Straßenmagazin fiftyfifty. „Die Zeitung wollen die Leute nur noch ungern kaufen, und gespendet wird auch kaum noch.“

Dazu kommt die massive ­Einschränkung der Hilfsangebote. Bundesweit stellen immer mehr Tafeln die kostenlose ­Verteilung von Lebensmitteln ein. Ihre oft älteren, ehrenamtlichen Unterstützer*innen gelten selbst als Risikogruppe. „Jetzt zeigt sich die Labilität des Systems“, sagt Heike Moerland, Leiterin des Geschäftsfelds Soziale In­te­gra­tion bei der ­Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe. Natürlich sei der Rückzug des Staats aus der Lebensmittel­versorgung für die Ärmsten ein Fehler gewesen: „Im ­Notfall ­können Ehrenamtliche die ­Tafeln eben nicht offen halten.“

Auch immer mehr Drogenberatungsstellen böten keinen kostenlosen Mittagstisch mehr, berichtet Marion Gather von der Altstadt-Armenküche in Düsseldorf. „Wir selbst haben noch nicht geschlossen – und wollen das auch nicht“, sagt sie. Um das Ansteckungsrisiko der Wohnungssuchenden, deren Immunsystem nach langer Zeit auf der Straße oder in Notunterkünften oft geschwächt sei, zu schützen, habe die Armenküche die Essensausgabe aber ins Freie verlegt: „Wir haben Bier­tische aufgestellt, damit die Menschen mehr Abstand halten können“, sagt Gather.

Massive Ansteckungsgefahr herrscht auch in den Notunterkünften. Dort ist zwar die Unterbringung in Schlafsälen zurückgegangen. Zimmer, die sich vier Fremde teilen müssen, sind aber nicht selten. In Hamburg sitzen nach einem ersten positiven Test auf das Coronavirus bereits 300 Wohnungssuchende bis Ende März in „häuslicher Quarantäne“ fest und dürfen die Unterkunft nicht verlassen.

„Platte machen“

Das Straßenmagazin fiftyfifty fordert nun, den mehr als 500 Wohnungssuchenden in Düsseldorf zumindest während der ­Epidemie zu erlauben, „Platte zu machen“ – also sich in Zelten zu isolieren und damit selbst zu schützen. Bisher war aber nicht nur Nordrhein-Westfalens Landeshauptstadt äußerst rigoros gegen wild campende Obdachlose vorgegangen.

„Möglich wäre doch auch eine seriöse Unterbringung auf Zeltplätzen“, sagt deshalb Andreas Sellner, stellvertretender Vorsitzender der katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Allerdings sei bis heute unklar, wo erkrankte Obdachlose in Quarantäne gehen könnten und wo viele der mehr als 600.000 Menschen ohne eigene Wohnung in Deutschland im Fall einer drohenden Ausgangssperre bleiben sollen.

In Düsseldorf gibt es über 200 Plätze in Notunterkünften. Mehr als 300 Menschen aber leben buchstäblich auf der Straße. Am verletzlichsten seien dabei Frauen, sagt Heike Moerland von der Diakonie. Manche könnten sich gezwungen sehen, bei sogenannten Bekannten unterzukommen – die dafür teilweise „Dienstleistungen“ erwarteten – auch sexuelle.

Die Hilfsorganisationen fordern daher: „Als Allererstes müssen Zwangsräumungen unverzüglich gestoppt werden“, sagt Moerland. „Es dürfen nicht noch mehr Menschen aus ihren Wohnungen geworfen werden. Wir müssen neue Fälle von Obdachlosigkeit verhindern.“

Nachsicht in der Justiz?

Allerdings: Aus Respekt vor der Unabhängigkeit der Justiz hat etwa das NRW-Justizministerium darauf verzichtet, Zwangsräumungen per Erlass zu verbieten. Die Entscheidung liegt damit weiter bei den ­Gerichtspräsidenten und ihren Gerichtsvollziehern vor Ort. Man setze aber darauf, dass diese in Zeiten der ­Corona-Krise eigenverantwortlich handelten, ist aus Düsseldorf zu hören.

Außerdem ­müssten die Hartz-IV-Regelsätze angehoben werden. Schließlich sind in den Supermärkten preiswerte Lebensmittel besonders schnell ausverkauft.

Die Vertreter*innen der ­kirchlichen Hilfsorganisationen fordern, auch die So­zial­arbeiter*innen in den Katalog der systemrelevanten Berufe aufzunehmen und ihnen so Zugang zur Kinderbetreuung zu ermöglichen. „In der Wohnungslosenhilfe sind überdurchschnittlich viele Frauen aktiv, viele haben Kinder“, sagt Andreas Sellner: „Wenn sie nicht weiterarbeiten können, bricht das Hilfssystem zusammen.“

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