Interview mit Berliner HAU-Intendantin: „Wir machen nun Homeoffice“

Der Spielbetrieb abgesagt, neue Strategien werden entwickelt. Langfristig glaube sie an eine Sehnsucht nach Theater, sagt Annemie Vanackere.

Annemie Vanackere vom HAU   Foto: Dorothea Tuch

taz: Frau Vanackere, wie viele Vorstellungen fallen im HAU aus?

Annemie Vanackere: Bis 19. April mussten wir 55 Aktivitäten annullieren, was sehr bitter ist. Das ganze Festival „Spy on Me #2 – Künstlerische Manöver für die digitale Gegenwart“, dann das komplette Showcase Ligia Lewis und Repertoirestücke von She She Pop, Gob Squad und Ivo Dimchev, um nur einiges zu nennen.

Welche Einnahmenverluste drohen dadurch?

Wir haben das noch nicht durchkalkuliert. Nach aktuellem Stand werden zumindest bei „Spy on Me #2“ die Einnahmenverluste in etwa kompensiert durch die Ausgaben, die wir nicht haben, weil wir das Programm in dieser Form nicht durchführen können. Zum Beispiel Flüge und Unterkünfte, die wir nicht brauchen. Aber das gilt nur für das Festival.

Können die ausgefallenen Vorstellungen später in den Spielplan integriert werden? Gibt es da überhaupt einen Platz dafür?

Das ist ein großes Problem. Bei den Repertoirestücken wird es wieder Möglichkeiten geben. Auch das Thema digitale Manöver …

geboren 1966 in Courtrai, Belgien, ist studierte Philosophin und kam 1995 als künstlerische Leiterin an die Rotterdamse Schouwburg in den Niederlanden. Ab der Spielzeit 2012/2013 übernahm Vanackere als Nachfolgerin von Matthias Lilienthal die künstlerische Leitung vom Berliner Theaterkombinat Hebbel am Ufer (HAU).

… also die Inhalte vom ausgefallenen Festival „Spy on Me#2“ …

… ist mir eine Herzensangelegenheit. Da bleiben wir dran. Aber wann und wie und in welcher Konstellation das sein wird, das können wir nicht sagen. Wir können es auch nicht den beteiligten Künstler*innen versprechen. Denn im Grunde sind wir durchgeplant bis März 2021.

Durch den Coronavirus könnte aber auch manches freiwerden, weil vielleicht nicht jede Produktion zustandekommt wegen der unterschiedlichen Regelungen und Reiserestriktionen in den Heimatländern der Künstler*innen. Haben Sie das auch schon beobachtet?

Kurzfristig ist das der Fall mit Forced Entertainment. Die Gruppe verschiebt ihre geplante Premiere gleich ins nächste Jahr. Ursprünglich wollten sie Mitte April für die Endproben nach Deutschland kommen und bei den drei Koproduktionspartner*innen spielen: Premiere auf PACT Zollverein, danach im HAU und dann zum Mousonturm. Das ganze Projekt wird nun aber verschoben, sowohl aus gesundheitlicher Fürsorge als auch wegen Mobilitätsproblemen.

Wie lange, denken Sie, wird sich die Situation noch hinziehen? Wird es ab dem 20. April weitergehen?

Auch wir wissen nicht, wie die Lage sich entwickelt. Aber das Theatertreffen ist bereits abgesagt. Ich schließe nicht einmal aus, dass wir bis zur Sommerpause keinen Spielbetrieb haben werden.

Wie ist die Situation der Künstler*innen und der ganzen freien Techniker*innen und anderen Freiberufler*innen, die zum Theaterbetrieb dazugehören. Zahlen Sie denen Ausfallhonorare? Gibt das der Etat überhaupt her?

Wir stehen selbstverständlich zu den bereits eingegangenen Verpflichtungen. Hier haben wir auch Rückendeckung aus der Senatsverwaltung. Es herrscht jedoch noch Unsicherheit, wie mit Produktionen über den 19. April hinaus umzugehen ist. Wir planen ja langfristig. Da warten wir noch auf ein Signal vonseiten der politisch Verantwortlichen. Die Gehälter der Angestellten sind gesichert. Aber die zahlreichen Freiberufler*innen, Künstler*innen und freien Gruppen, mit denen wir zusammenarbeiten, haben existenzielle Probleme, wenn der Spielbetrieb weiter ausgesetzt bleibt. Das ist keine gute Situation. Es gibt derzeit noch keine belastbaren Ideen, wie den Freiberufler*innen effektiv und unbürokratisch geholfen werden kann. Ich habe Zweifel, dass Gelder aus abstrakten Fonds rechtzeitig bei ihnen ankommen.

Ein großes Problem ist auch, wie sich, wenn die Ausnahmesituation weiter anhält, die sozialen Mechanismen ändern, wenn wir uns daran gewöhnt haben, auf Distanz zu gehen. Wie wird es dann dem Theater gehen?

Da treffen Sie einen Nerv bei mir. Nadia Ross von der kanadischen Gruppe STO Union, die „Spy on Me #2“ eröffnen sollte, hat mir erzählt, wie lange Kanada brauchte, sich von der Sars-Epidemie 2003 zu erholen. Auch damals ging es darum, soziale Distanz einzuhalten, um die Ansteckung einzudämmen. Als die Normalität zurückkommen durfte, hatten die Menschen Scheu, wieder in Theaterräume zu gehen, wo man Ellenbogen an Ellenbogen sitzt.

Weil Theater für viele dann weiterhin in der Imagination eine Art Giftküche, ein potenzieller Ansteckungsherd war, den man lieber vermeiden sollte?

Oh je, so ein ganz schlimmes Wort! Aber ja.

Gibt es eigentlich Überlegungen und Ideen für andere Formate, die auch jetzt gehen könnten, für virtuelles Theater?

Es ist in unserer DNA drin, uns zu überlegen, was wir machen können. Was geht möglicherweise online? Nicht Theaterstücke: Die leben davon, dass Publikum da ist. Aber es funktioniert für Arbeiten, bei denen das Digitale bereits mitgedacht wurde. So wie bei „dgtl fmnsm“. Wir wollten erst eine Art Installation in unserem HAU2-Studio für sie aufbauen und von dort, mit Publikum, live streamen. Da das nicht mehr geht, arbeitet die Gruppe nun von zu Hause aus, und wir unterstützen mit etwas Technik. Und jeden Freitag, zu den Terminen, an denen das Projekt auch bei „Spy on Me #2“ laufen sollte, wird es online sein. James Bridle wird seine Lecture in Griechenland aufzeichnen. Ein Livestream ist wegen des schwachen Internets dort zu riskant. Aber es wird über unseren YouTube-Kanal abrufbar sein. Auch „Collectivize Facebook“, die Initiative von Jonas Staal zur Vergemeinschaftung von Facebook, wird in einer Onlineversion zu sehen sein. Wir haben also einen kleinen „Spy on Me #2“-Kalender, mit vier, fünf Dingen, die online funktionieren. Was wir später machen werden, beraten wir jetzt. Wir können Künstler*innen fragen, wie zum Beispiel Gob Squad:,Ihr könnt jetzt nicht proben. Aber gibt es vielleicht Sachen, die ihr machen könnt in dieser Übergangszeit?' Aber das ist noch in einer ganz embryonalen Phase. Ich denke, es müssen Sachen sein, die auf unseren Laptops und Handys funktionieren, alles andere macht meiner Meinung nach keinen Sinn.

Wie bereiten Sie sich im Haus auf einen möglichen positiven Fall vor? Wie sind Sie gerüstet?

Wir haben auf Homeoffice umgestellt und arbeiten jetzt auch mit einem A- und einem B-Team. Wir haben beschlossen, dass ich und meine stellvertretende Künstlerische Leiterin Aenne Quinones so wie auch der Verwaltungsleiter Lars Zühke nicht mehr gemeinsam in einem Raum sind. Das Gleiche gilt für die technische Leitung, die ebenfalls aus zwei Personen besteht. Wir teilen uns auf, um im Falle einer Quarantäne noch weiter arbeitsfähig zu sein.

Was kann man vielleicht von Kanada und anderen Sars-erprobten Ländern lernen? Welche Strategien haben die Theaterkünstler*innen dort bei einer vergleichbaren Krise entwickelt?

Nadia Ross erzählte mir, dass sie damals in einer früheren Kneipe produzierten. Aus Platzmangel spielten sie auf dem Dachboden – und das wurde unten in die Kneipe live gestreamt. Sie meinte: So könnte man Serienformate entwickeln direkt fürs Internet, das könnte interessant sein. Sie sagte mir aber auch, dass die Stadt Toronto etwas Besonderes tat, als die Krise vorbei war, um die Menschen wieder daran zu erinnern, was es bedeutet, zusammen zu sein. Sie veranstalteten ein großes Rolling Stones-Konzert bei freiem Eintritt. Und ich denke, dass es, sollte die Situation länger anhalten, und es uns in Fleisch und Blut übergegangen ist, uns nicht mehr zu umarmen, nicht mehr nahe beieinander in geschlossenen Räumen zu sein, dass es dann auch hier bei uns notwendig sein wird, den Theatern zu helfen, damit die Menschen wieder zu ihnen kommen. Langfristig glaube ich aber fest daran, dass es weiter eine Sehnsucht nach Theater und nach Zusammensein geben wird.

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