Masern-Impfpflicht an Schulen und Kitas: Stöhnen über Mehrarbeit

Seit dieser Woche müssen Schul- und Kitakinder eine Masernimpfung nachweisen. Bei der Umsetzung gibt es aber viele offene Fragen – und Unmut.

Ein Impfbuch in der Hosentascher einer Jeans

Einmal Impfpass zeigen, bitte: Seit 1. März 2020 ist das Masernschutzgesetz in Kraft Foto: Panthermedia/imago

BERLIN taz | Eigentlich hat Reinhard Braun wenig Grund zum Klagen. Erst vor Kurzem hat seine Schule einen lange überfälligen Anbau abgesegnet. Bald sollen die rund 430 Schüler:innen der Waldorfschule Berlin-Mitte statt in dem engen DDR-Bau aus den 50er Jahren Musik und Naturwissenschaften in neuen Fachräumen entdecken dürfen.

Fast noch mehr freut sich Geschäftsführer Braun die Tage aber über etwas anderes: „Beim Thema Masernimpfung zeigen sich unsere Eltern sehr unaufgeregt.“ Braun weiß: Das ist keine Selbstverständlichkeit.

Seit vergangenen Sonntag besteht in Deutschland eine Masernimpfpflicht für Kinder an Schulen und Kitas. Und wie immer, wenn der Staat seine Bürger:innen zu etwas verpflichten will, regt sich Widerstand. Bei Ärzt:innen, die die Maßnahme als unverhältnismäßig bezeichnen. Bei Eltern, die in dem Gesetz von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) einen unerlaubten Zwang erkennen und deshalb vor dem Verfassungsgericht klagen. Und bei Erzieher:innen und Lehrer:innen, die den zusätzlichen Arbeitsaufwand beklagen.

Die Aufgabe, den Impfstatus von Kindern und Schüler:innen zu kontrollieren, werde den Kita- und Schulleitungen unnötigerweise aufgebürdet. Diese Beschwerde fällt häufig, wenn man die Tage mit Schulen und Kitas telefoniert. Die Aufgabe könnten doch genauso gut die Gesundheitsämter übernehmen.

Empfohlene Impfquote? Fehlanzeige!

Tatsächlich müssen laut dem Gesetz sämtliche Einrichtungen, die „regelmäßig überwiegend minderjährige Personen“ betreuen, ab sofort sicherstellen, dass Kinder, Jugendliche, aber auch die Mitarbeiter:innen gegen Masern geimpft sind. Das gilt auch für Praktikant:innen und ehrenamtliche Mitarbeiter:innen.

Das Gesundheitsministerium begründet die Maßnahme damit, dass trotz 430 Masernausbrüchen zwischen 2014 und 2018 die empfohlene Impfquote bei Zweijährigen immer noch weit verfehlt werde. Nicht mal drei von vier Kindern in dem Alter haben die notwendigen beiden Masern-Impfungen erhalten. Eine Ausrottung der hochansteckenden Krankheit ist laut der Ständigen Impfkommission STIKO aber erst bei mindestens 95 Prozent möglich.

Nur: Selbst bei Erstklässler:innen erreichen die Bundesländer im Schnitt nur gut 93 Prozent. So kommt es – wie im vergangenen Jahr in Hildesheim, Hannover oder Freiburg – immer wieder zu Masernausbrüchen an Schulen.

Viele Lehrer:innen begrüßen deshalb die nun geltende Impfpflicht. Die Umsetzung hingegen stößt auf massive Kritik. So warnte der Lehrerverband VBE, dass die Schulleitungen „bereits über Gebühr belastet“ seien und verwies auf eine aktuelle Studie, nach der 91 Prozent der Schulleiter:innen in dem stetig wachsenden Aufgabenspektrum den größten Belastungsfaktor sehen.

Unmut über Mehrarbeit an Schulen

Auch Ursula Kruse, Landesvorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW Sachsen, hält die bevorstehende Zusatzaufgabe für „ein Riesenproblem“. Bei 400.000 Schülerinnen und Schüler im Freistaat falle eine deutliche Mehrarbeit an, sagt sie der taz: „Und ich habe noch nicht gehört, dass die Schulleitungen dafür mehr Ressourcen bekommen sollen.“

Tatsächlich ist davon weder in dem Gesetzestext noch auf den Infoseiten der jeweiligen Kultusministerien die Rede. In Zeiten von eklatantem Personalmangel an Schulen ein falsches Signal, findet Kruse. „Wir müssen uns ernsthaft fragen, welche Aufgaben Lehrerinnen und Lehrer heute übernehmen sollen“. Immerhin habe die neue schwarz-rot-grüne Regierung in Sachsen das Thema Lehrerarbeitszeit mit in den Koalitionsvertrag geschrieben. Vor 2023 wird es aber keine Entlastungen geben – und dann auch nur, wenn genügend Personal vorhanden sei.

Wie viel Arbeit beim Nachweis der Impfpflicht ansteht, ist nicht die einzige Unsicherheit, die das Spahn-Gesetz an Schulen und Kitas ausgelöst hat. Völlig unklar ist auch, wie die Einrichtungen die Daten an das Gesundheitsamt weiterleiten oder die Impfdaten von Kindern und Jugendlichen in digitalen Schülerakten speichern können, ohne gegen Datenschutzregeln zu verstoßen.

Ebenso unklar: Wann genau die „angemessene Frist“ für Eltern endet, die Impfung nachzuweisen, bevor das Bußgeld von bis zu 2500 Euro fällig wird. Oder ob Bußgelder auch gegen Schulleiter:innen verhängt werden, wenn zum Beispiel die Schule wegen eines Masernfalls geschlossen werden muss.

Viele offene Fragen

Ebenso ist ungeklärt, wer den Impfnachweis von Schul­so­zial­ar­beiter:innen, Putzkräften oder Ganz­tagsbetreuer:innen, die nicht an der Schule angestellt sind, weiterleitet: Träger oder Schule? Und speziell für Kitaleitungen stellt sich die Frage, ob sie ihre heiß begehrten Plätze für Kinder freihalten müssen, die zum Stichtag noch nicht geimpft sind.

Zu dieser Unsicherheit kommt, dass manche Bundesländer ihre Informationsschreiben an Schul- und Kitaleitungen erst eine oder zwei Wochen vor Inkrafttreten des Gesetzes verschickt haben. „Wie in Sachsen so spät zu informieren und dann zu sagen, nun macht mal, das geht nicht“, sagt Gewerkschafterin Kruse.

Klar hingegen ist: Ein Verstoß gegen die Impflicht hat – je nach Einrichtung – unterschiedliche Folgen: Während Kitas Kinder ohne Masernimpfung ausschließen müssen, können Schulen sie wegen der Schulpflicht gar nicht vor die Tür setzen. Was auch klar ist: Die intensive Beschäftigung rund um das Thema Impfnachweis steht den Kitas und den Schulen erst noch bevor.

Nur Kinder, die neu an die Schule kommen, müssen jetzt schon den Impfpass oder ein ärztliches Attest vorlegen. Für alle anderen Schüler:innen gilt noch die Übergangsfrist bis Ende Juli 2021. Die meisten Familien können sich mit dem Impfnachweis für ihre Kinder also noch gehörig Zeit lassen.

430 Schüler:innen = 14 Tage Mehrarbeit

Die Erfahrung hat auch Reinhard Braun von der Waldorfschule Berlin-Mitte gemacht. Vor vier Wochen hat Braun alle Eltern angeschrieben. Die wenigsten haben auf den Brief geantwortet. In nur einem Fall habe die Familie grundsätzliche Bedenken gegen die hierzulande übliche Mehrfach-Impfung geäußert. In drei anderen Fällen gab es Nachfragen zum ärztlichen Attest.

Am Montag, Tag eins nach Inkrafttreten des Impfschutzgesetzes, sei an seiner Schule alles ganz ruhig gewesen, erzählt Braun. Dennoch hat er schonmal grob überschlagen, wie viel Arbeit auf ihn zukommt: „Wenn ich nur zehn Minuten für jeden Nachweis rechne, komme ich bei unserer Schülerzahl bereits auf zwei Wochen Mehrarbeit“. Gar nicht mitgerechnet ist da die Zeit, die für Rundschreiben, Infoveranstaltungen, Telefonate oder Fortbildungen draufgeht. Vielleicht spielt sich das dieses Jahr alles ein“, hofft Braun.

Lars Békési sieht das nicht so entspannt. Békési ist Geschäftsführer des Berliner Kitaträgerverbands VKMK. Die Kitas, die bei ihm Mitglied sind, stellen rund 9.000 der berlinweiten 73.000 Plätze zur Verfügung. Was Békési am Meisten stört: wie spät der Senat die Träger informiert habe. Erst am 26. Februar – vier Tage vor in Krafttreten der Impfpflicht – habe er ein „flapsiges Rundschreiben“ erhalten. Wie er aber die Daten an das Gesundheitsamt übermittle, ohne gegen Datenschutzregeln zu verstoßen, das ist ihm unklar. Auch bei dem anfallenden Mehraufwand sieht sich Békési alleingelassen. „In unseren Kitas müssen nun rund 20.000 Mit­arbeiter:innen überprüft werden. Da können Sie sich vorstellen, was das heißt.“

Auch Békési versteht nicht, warum nicht die Gesundheitsämter die Arbeit übernehmen. Ein Blick auf die Zahlen spricht jedoch nicht gerade dafür. Bundesweit gibt es rund 32.000 Schulen und 56.000 Kitas. Gesundheitsämter gibt es knapp 400. Und die haben schon vor dem Masernschutzgesetz von Jens Spahn klargestellt, dass ihnen das Personal fehlt, um das Vorhaben umzusetzen.

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