SPD vor ihrem Parteitag: Die Verwandlung des Kevin Kühnert

Der Leitantrag ist moderat gehalten, die SPD wird wohl für den Verbleib in der Groko stimmen. Mit Kühnert als Vize.

Portrait von Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos, vor Fahrstuhl

Plötzlich pragmatisch: Kevin Kühnert Foto: Michael Kappeler/dpa

Ohne Kevin Kühnert wäre die SPD eine andere. Das ist ein erstaunlicher Satz: Jusochef ist ja wirklich kein einflussreiches Amt. Aber ohne den 30-Jährigen hätte die SPD nun eine andere Führung. Denn erst nachdem der Jusochef auf eine eigene Kandidatur gegen Olaf Scholz verzichtet hatte, unterstützten die Jusos mit viel Verve Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans.

Ohne dieses backing wären die beiden heute nicht designierte Parteichefs. Kühnert verfügt zudem über etwas, das in der politischen Klasse selten ist: rhetorisches Talent und eine Intellektualität, die an Robert Habeck erinnert. Deshalb ist es folgerichtig, dass Kühnert nun Vizeparteichef werden will. Einen Jusochef, der Vize-Parteivorsitzender wird, gab es noch nie. Aber in der SPD ist gerade nichts so wie immer.

Das zweite Erstaunliche: Man kann gerade die Verwandlung des als radikal geltenden Jusos, der 2017 der Antigro-Bewegung in der SPD erst richtig Schwung verlieh, in den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD erleben. Kühnert enterte die öffentliche Bühne mit dem Slogan: keine Groko. Nun klingt er deutungsoffen, abwägend, fast diplomatisch.

Einerseits hätte ja die SPD-Basis selbst Ja zur Groko gesagt, andererseits müsse man sehen, was man mit der Union noch zuwege bringen kann. Aber auf keinen Fall dürfe die SPD nur pro forma mit der Union reden und den Bruch unbedingt wollen. Kühnert ist irgendwie noch immer gegen die Groko, aber jetzt, da der Bruch möglich ist, fallen ihm sehr viele Aber ein.

Die SPD darf in dem Spiel um die Große Koalition bei Strafe des Untergangs nicht blindlings auf Raus aus der Groko setzen

Bloß nichts überstürzen. Kühnert schlägt damit den Sound des SPD-Leitantrags an (oder ist es umgekehrt?). Das Himmelsstürmerische, Radikale scheint unmerklich zu verdampfen, Augenmaß, Verantwortungsethik, das Machbare rücken in den Vordergrund. Findet hier statt, wofür die Ex-Jusochefin Andrea Nahles immerhin zwei Jahrzehnte gebraucht hat: die Ersetzung des Oppositionellen, Aufmüpfigen durch Pragmatismus und Machttaktik, das Verschwinden des Prinzipiellen? Geht Kühnert in fast forward den Weg so vieler anderer Jusochefs?

Eher nein. Denn der Rahmen ist seit Samstagabend ja völlig anders. Mit der Wahl der linken Spitze Esken und Walter-Borjans haben sich die Koordinaten, in denen sich die Partei bewegt, komplett verändert. Die SPD darf in dem Spiel um die Große Koalition bei Strafe des Untergangs nicht blindlings auf Raus aus der Groko setzen. Sie muss, falls die Groko zerbricht, einen guten Grund dafür haben. Und der kann nicht sein, dass ein paar Tausend GenossInnen mehr für Esken und Nowabo stimmten als für Scholz und Geywitz.

Die neue Spitze braucht Zeit, um zu finden, was der SPD gerade fehlt: eine einleuchtende Begründung, warum sie die Groko verlässt. Oder warum sie in der Groko bleibt

Der Angriff von CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer zielt auf die schwache Stelle der SPD – ihre Zerrissenheit in Sachen Groko. Ein großer Teil, weit über die Jusos hinaus, hat einfach keine Lust mehr, an der Seite der Union immer kleiner zu werden. Die Durchhalteparolen aus Berlin, das Selbstlob à la: die SPD-MinisterInnen würden den Takt der Koalition bestimmen, klingt in den Ohren vieler, vor allem in NRW, bekannt – und hohl. Denn das fleißige Regieren in Berlin scheint die andere Seite des Verschwindens der SPD – bei Wahlen, aber auch dabei, eine erkennbare eigenständige Kraft zu sein.

Doch ein fast ebenso großer Teil, deren lauteste Stimme der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil ist, will die Groko fortsetzen: wegen der Grundrente und um die auf halber Strecke liegen gebliebene Energiewende umzusetzen. Kramp-Karrenbauers Attacke – Grundrente nur, wenn die SPD sich zur Regierung bekennt – setzt genau dort an. Sie provoziert die Groko-Skeptiker in der SPD, die das für Erpressung halten.

Kühnert und die neue SPD-Spitze scheinen all diese Gefahren zu begreifen – auch welche Risiken schnelle Neuwahlen bedeuten würden. Mit dem moderat gehaltenen Leitantrag, der auf harte Forderungen – wie 12 Euro Mindestlohn sofort oder ein massives Investitionsprogramm sofort – und auch rote Linien für Verhandlungen mit der Union verzichtet, verschaffen sie sich Zeitgewinn. Und sie brauchen Zeit, um zu finden, was der SPD gerade fehlt: eine einleuchtende Begründung, warum sie die Groko verlässt. Oder warum sie in der Groko bleibt. Letzteres ist, wenn man Kühnerts Ausflüge in die Welt der Diplomatie richtig deutet, wahrscheinlicher.

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Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.

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