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Letzter Anlauf für einen Brexit-Deal

Großbritannien legt die seit Langem geforderten schriftlichen Vorschläge zu einer Revision des Brexit-Abkommens mit der EU vor. Die britische Opposition und Teile der EU üben harte Kritik

Aus Berlin und Brüssel Dominic Johnson und Eric Bonse

John Bercow verliert aus Heiserkeit die Stimme. Jeremy Corbyn brüllt lauter als Boris Johnson. Der Premierminister fordert kritische Abgeordnete zu Ernsthaftigkeit auf. Verkehrte Welt herrschte am Donnerstag im britischen Unterhaus, als Johnson den Parlamentariern den neuen offiziellen Vorschlag Großbritannien an die EU zu einem neuen Brexit-Abkommen vorstellte. Wenn das so weitergeht, wird die EU begeistert zustimmen, das daraus entstehende Abkommen in London wird eine Parlamentsmehrheit finden, und am 31. Oktober wird Großbritannien die EU mit einem Deal verlassen und alle sind glücklich.

Aber die gewohnten Verhältnisse, in denen nichts vorankommt und alle schlecht drauf sind, drohen schnell wiederzukehren. Denn einhellig lehnten alle Oppositionsführer im Parlament den Vorschlag ab. „Weder ernsthaft noch glaubwürdig“ war das Urteil des Labour-Chefs Corbyn. „Inakzeptabel und nicht umsetzbar“ nannte sie der Fraktionschef der schottischen Nationalisten, Ian Blackford.

Es blieb einem konservativen Hinterbänkler überlassen, darauf hinzuweisen, dass die Reaktion in Brüssel gemäßigter war. Ein höfliches „Wait and see“ lautet die Position der EU. Es sei zu begrüßen, dass sich London um eine Lösung bemühe, sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Chefunterhändler Michel Barnier verwies auf „viel Arbeit“, die noch zu erledigen sei.

Die vom Belgier Guy Verhofstadt geleitete Brexit-Steuerungsgruppe des Europaparlaments nannte das Papier am Donnerstag allerdings einen „Rückschritt“, der „nicht einmal annähernd“ den Anforderungen entspreche. Frostig dürfte auch der Empfang bei einer Sitzung der 27 EU-Botschafter am Donnerstagabend ausgefallen sein. Der Vorschlag müsse „grundlegend überarbeitet“ werden, sagte ein EU-Diplomat. Dafür bleibe nur wenig Zeit: Am 31. Oktober verlässt nach geltender Beschlusslage Großbritannien die EU; bis zum EU-Gipfel in zwei Wochen müsste eine Einigung stehen.

Der Vorschlag, den London am Mittwochnachmittag nach Brüssel schickte, soll den einzigen Brexit-Beschluss umsetzen, der jemals im britischen Unterhaus eine Mehrheit gefunden hat: der von Theresa May ausgehandelte Deal von 2018 ohne den darin enthaltenen Nordirland-Backstop.

Der bestehende Backstop garantiert eine offene Grenze auf der irischen Insel dadurch, dass das gesamte Vereinigte Königreich (Großbritannien und Nordirland) Teil der EU-Zollunion bleibt, solange die EU das will, und dass darüber hinaus Nordirland – aber nicht Großbritannien – im EU-Binnenmarkt bleibt. Im neuen Vorschlag verlässt das gesamte Vereinigte Königreich die Zollunion. Die Regeln des EU-Binnenmarktes gelten in Nordirland weiter, jedoch nicht, solange die EU es will, sondern solange Nordirland es will.

Vom Backstop übernommen wird damit die Notwendigkeit von Kontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland zur Einhaltung der Regeln des EU-Binnenmarktes. Dies soll aber nur vorbehaltlich der Zustimmung der nordirischen Institutionen, wie sie das Karfreitagsabkommen von 1998 einsetzte, möglich sein. Diese Zustimmung muss vor Ende der im Deal vorgesehenen Übergangsfrist „und danach alle vier Jahre“ eingeholt werden. Das offizielle Dokument spricht von „andauernder Regelangleichung für eine potenziell lange Zeit auf der gesamten irischen Insel nach dem Ende der Übergangsfrist, solange die nordirische Bevölkerung damit einverstanden ist“.

Das Zustimmungsprinzip ist der wichtige Unterschied zum Backstop. Der andere: Es entsteht nun doch eine Zollgrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland.

Laut dem britischen Vorschlag soll aber auf Zollkontrollen verzichtet werden. Alle Waren, die die Grenze überqueren, sollen zwar „deklariert“ werden, aber „regulatorische Kontrollen finden nicht statt“. Für kleinere und „autorisierte“ Unternehmen – der meiste grenzüberschreitende Warenverkehr auf der irischen Insel ist entweder kleiner Grenzverkehr oder Sache einiger Großunternehmen, beispielsweise als Teil von Lieferketten – sollen Ausnahmeregelungen gelten.

In seiner Regierungserklärung am Donnerstag bekräftige Johnson: „Es wird keine Kontrollen an oder nahe der Grenze geben.“ Das Schreiben an die EU führt aus: „Wir schlagen vor, dass alle zur Gewährleistung der Einhaltung der Zollregeln nötigen Zollverfahren dezentral durchgeführt werden, mit elektronischer Abfertigung von Warenbewegungen zwischen den beiden Ländern.“ Die „sehr geringe Anzahl nötiger physischer Kontrollen“ solle „auf dem Gelände des Händlers oder an anderen Stellen in der Lieferkette“ stattfinden. Man wolle „Vereinfachungen“, bei „einer klaren Verpflichtung beider Parteien, niemals in der Zukunft Grenzkontrollen durchzuführen“.

Nordirlands Handel

Großbritannien ist wichtigster Handelspartner: 2017 belief sich der Warenumsatz Nordirlands (1,9 Mio. Einwohner) auf 79,7 Milliarden britische Pfund, davon 47,2 Mrd. innerhalb Nordirlands. Der Warenverkehr mit Großbritannien erreichte 18,1 Milliarden, mit der Republik Irland 5,3 Milliarden.

Tiertransporte und -produkte dominieren: Wichtigste innerirische Warenkategorien sind Lebendtiere, Nahrungsmittel und Nahrungsmittel­erzeugnisse (40 % der nordirischen Ankäufe aus Irland, 32 % der Verkäufe nach Irland) im Grenzgebiet, wie Schweine nach Nordirland und Milch nach Irland. Es folgen Lieferketten großer Unternehmen wie Bombardier und Guinness.

Quelle: Northern Ireland Statistics and Research Agency

Aus Johnsons Sicht reicht das, um die von EU-Chefunterhändler Michel Barnier formulierten drei Ziele des Backstops zu erfüllen – „keine Grenzanlagen, ein gemeinsamer Wirtschaftsraum auf der irischen Insel und Schutz des Binnenmarkts“. In einem internen Papier führt die britische Regierung aus, sie sei zwar zu Gesprächen über Details ihres Konzeptes bereit, aber der Austritt aus der Zollunion sei nicht verhandelbar.

Wie die EU das sieht, muss sich jetzt zeigen. Brüssel will bei aller Skepsis nicht als Buhmann dastehen. Niemand soll am Ende sagen können, die EU habe nicht alles versucht, um eine Verhandlungslösung zu finden. Auch die Meinung Nordirlands wird eine Rolle spielen. Die protestantischen DUP-Unionisten haben den Vorschlag begrüßt, die katholische Sinn Féin hat ihn abgelehnt. Nordirlands Unternehmerverband sprach am Donnerstag von einer „Diskussionsgrundlage“.

Hinter den Kulissen machen sich die EU-Chefs Sorgen. Was, so fragen sie sich, passiert, wenn man sich mit Johnson bis zum EU-Gipfel nicht einigt – der Premier aber auch keinen Antrag auf Verlängerung der Brexit-Frist vorlegt? Dann würde es doch noch zum „No Deal“ kommen, denn von sich aus kann die EU keinen Aufschub gewähren. Wobei zwar das britische Unterhaus davon ausgeht, Johnson per Gesetz dazu gezwungen zu haben, einen Aufschub zu beantragen, aber Johnson betont, dass es beim 31. Oktober bleiben soll.

Bis zum EU-Gipfel ist an der Parlamentsfront Ruhe. Die Regierung in London wird die laufende Sitzungsperiode des Parlaments – die Johnson im September vergeblich abzubrechen versucht hatte – am kommenden Dienstag beenden und das Parlament am 14. Oktober mit der Regierungserklärung durch die Queen neu eröffnen. Johnson könnte dann die Annahme der Regierungserklärung mit der Annahme des neuen Brexit-Deals verknüpfen – sofern es ihn gibt.

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