Elende Zustände auf Balkanroute: Kroatien anprangern

Auf der neuen Balkanroute zeichnen sich Zustände wie in Libyen ab. Die Zahl der Flüchtlinge steigt wieder und die EU schaut angestrengt weg.

Menschen stehen in einer Schlange und warten. Hinter ihnen sind Zelte

Das improvisierte Flüchtlingslager Vučjak Foto: dpa

Das Augenmerk der Öffentlichkeit beim Thema Migration ist zurzeit vor allem auf das Mittelmeer gerichtet. Wenn jetzt Innenminister Horst Seehofer plötzlich Menschlichkeit zeigt und erklärt, Deutschland sei bereit, 25 Prozent der Boat People aufzunehmen, hat dies wohl auch mit europa- und parteipolitischen Überlegungen zu tun. Rund 800 Menschen pro Jahr – das ist überschaubar. Die Mittelmeer-Problematik ist schon zahlenmäßig vergleichsweise klein angesichts der Entwicklung auf die Landroute über den Balkan.

Denn das Abkommen EU­–Türkei wackelt. Schon jetzt sind es wieder Tausende verzweifelter Menschen, die auf die griechischen Inseln fliehen. Und es dürften bald mehr werden. Die Stimmung in der Türkei gegenüber syrischen Flüchtlingen hat sich gewandelt. Präsident Erdoğans Kompromisspolitik gegenüber Europa wird zunehmend hinterfragt.

Dies wird noch verstärkt durch die Unsicherheiten, die sich aus der Lage in den noch nicht vom syrischen Regime beherrschten Gebieten rund um Idlib ergeben. An den Fronten bewegt sich zwar im Augenblick wenig, doch die Angst vor weiteren drei Millionen Syrern, die aus diesem Gebiet in die Türkei fliehen, wird immer größer. Dabei sind noch nicht einmal die Risiken eingerechnet, die mit dem Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran zusammenhängen. Die iranischen (Hilfs-)Truppen, die das syrische Regime unterstützen, könnten jederzeit den Krieg im Land verschärfen, falls Iran von Saudi-Arabien und den USA angegriffen würde.

Unterm Strich ist mit einem Szenario zu rechnen, das sich schon jetzt abzeichnet: Immer mehr Menschen versuchen von der Türkei aus nach Griechenland und Bulgarien zu fliehen. Und sich von dort aus auf den Weg durch Südosteuropa zu machen, um Westeuropa zu erreichen. Schon heute sind es Tausende, die sich auf diesen Weg begeben haben. Nicht nur Syrer, auch Pakistaner und Afghanen.

Zwar haben Nordmazedonien und Ungarn die Grenzen ziemlich dicht gemacht, doch es gibt für findige Schlepper immer noch Löcher in dem Grenzgewirr auf dem Balkan. Und nicht alle Migranten sind mittellos. Unterbezahlte Polizisten und Behördenvertreter in diesen Staaten sind realistischerweise anfällig, wenn viel Geld im Spiel ist. Das gilt für Griechenland, Kosovo und Albanien ebenso wie für Rumänien und Serbien, Bosnien und Herzegowina und sogar für Kroatien.

Männer liegen in einem Zelt auf dem Boden

Ein Blick ins innere des Lagers Vučjak Foto: dpa

Damit gerät der ohnehin fragile Staat Bosnien und Herzegowina in den Fokus der Fluchtbewegung. Schon jetzt haben sich rund 7.000 Personen allein in dem im Nordwesten des Landes gelegenen Gebiets um Bihać angesammelt. Von hier aus hoffen sie über die bewaldeten Berge in das EU-Land Kroatien und von dort aus nach Italien oder nach Mitteleuropa zu gelangen. Indem es einige mit Hilfe von Schleppern und Bestechungsgeldern schaffen, dieses Hindernis zu überwinden, ist eine Sogwirkung auch für mittellose Migranten entstanden.

In Gruppen versuchen sie über noch oftmals im letzten Krieg verminte Gebiete Kroatien zu erreichen. Kroatische Polizisten und Sicherheitskräfte sind dazu übergegangen, die Migranten unter den Augen der europäischen Öffentlichkeit mit brutalen Methoden abzuwehren. Migranten werden geschlagen, ihnen werden Geld, Schuhe und Handys abgenommen und sie werden mit Gewalt zur Grenze und auf bosnisches Territorium zurückgebracht.

Der Sicherheitsminister Bosnien und Herzegowinas beklagte kürzlich die Grenzverletzungen vonseiten der kroatischen Grenzschützer und kündigte Gegenmaßnahmen an. An der grundsätzlichen Lage hat dies nichts geändert. Kurz vor dem Winter und den jetzt schon empfindlich niedrigen Temperaturen ist eine humanitär unhaltbare Situation entstanden. Nicht nur in den schlecht heizbaren ehemaligen Fabrikhallen vor den Toren der Stadt, wo die meisten Migranten untergekommen sind. Im Fokus steht das auf einer Müllhalde errichtete Lager Vučjak.

Soll die Migrationsproblematik ganz „pragmatisch“ auf den seit dem Krieg der 90er Jahre ver-armten und fragilen Staat Bosnien und Herzegowina abgewälzt werden?

Internationale Hilfsorganisationen weigern sich angesichts der Zustände sogar, dort tätig zu werden. Nur der privaten Initiative des deutschen Journalisten Dirk Planert und anderer Freiwilliger ist es zu verdanken, dass dort wenigstens Nothilfe geleistet wird. Eines steht jetzt schon fest: Die Hilfsorganisationen wollen im ganzen Land zwar neue Lager errichten. Das würde den Migranten kurzfristig über den Winter helfen. Doch weder in Brüssel noch in den Hauptstädten Europas scheint die Dringlichkeit des Problems wahrgenommen zu werden. Sie wird unter den Teppich gekehrt.

Dieses Schweigen macht misstrauisch. Soll die Migrationsproblematik ganz „pragmatisch“ auf den seit dem Krieg der 90er Jahre verarmten und fragilen Staat Bosnien und Herzegowina abgewälzt werden? Sollte sich das Szenario einer anschwellenden Migrationsbewegung über die Balkanroute bewahrheiten – woran kaum zu zweifeln ist –, würde Bosnien und Herzegowina als eine Art „europäisches Libyen“ weiter destabilisiert.

Dafür spricht, dass man sich nicht einmal dazu aufraffen kann, die gravierenden Menschenrechtsverletzungen der kroatischen Sicherheitskräfte auch nur anzusprechen. Dass Migranten geschlagen und gegen alle UN-Konventionen und gegen EU-Recht von Kroatien ins Nachbarland zurückgeschoben werden, ist ein Skandal und kann nicht gerechtfertigt werden.

Aber weder die neue Kommissionspräsidentin von der Leyen noch Kanzlerin Angela Merkel äußerten bei kürzlichen Besuchen in Kroatien Kritik an der nationalistisch-konservativen Führung des Landes, die ab 1. Januar 2020 die EU leiten wird. Im Gegenteil: Das „unproblematische“ Land (FAZ) wird hofiert. Es ist vonseiten der EU und Deutschlands also nicht zu erwarten, dass tragfähige Konzepte für einen menschenwürdigen Umgang mit der Migration in dieser Region erarbeitet werden. Nur öffentlicher Druck könnte dies ändern. Aber der ist bisher ausgeblieben.

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Erich Rathfelder ist taz-Korrespondent in Südosteuropa, wohnt in Sarajevo und in Split. Nach dem Studium der Geschichte und Politik in München und Berlin und Forschungaufenthalten in Lateinamerika kam er 1983 als West- und Osteuroparedakteur zur taz. Ab 1991 als Kriegsreporter im ehemaligen Jugoslawien tätig, versucht er heute als Korrespondent, Publizist und Filmemacher zur Verständigung der Menschen in diesem Raum beizutragen. Letzte Bücher: Kosovo- die Geschichte eines Konflikts, Suhrkamp 2010, Bosnien im Fokus, Berlin 2010, 2014 Doku Film über die Überlebenden der KZs in Prijedor 1992.

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