Parlamentswahl im Kosovo: „Das Land grundlegend erneuern“
Zwei junge Frauen schicken sich an, bei der Wahl am Sonntag den Kosovo zu verändern. Ihr Hauptthema: die Bekämpfung der Korruption.
Vor 20 Jahren, während des Kosovokrieges 1998/99, ist Fitore Pacolli zusammen mit ihrer Mutter aus Kosovo nach London geflohen. Dort hat die junge Frau eine Eliteerziehung genossen und hat an der London School of Economics studiert. Die energische Wirtschaftswissenschaftlerin hätte als Akademikerin in England Karriere machen können. Doch sie ist im Gegensatz zu anderen nach Kosovo zurückgekehrt. „Ich kann es nicht mehr ertragen, in welchem Zustand mein Land ist. Wir müssen dieses Land von Grund auf erneuern und als Erstes die Korruption und die Vetternwirtschaft bekämpfen“, sagt sie mit ihrem britischen Upperclass-Akzent.
Seit ihrer Rückkehr vor sieben Jahren ist sie zum engsten Kreis der Führungsriege ihrer Partei um den Vorsitzenden, den ehemaligen linken Aktivisten, Studentenführer, Menschenrechtler und Oppositionsführer Albin Kurti aufgestiegen. „Die jüngste Bevölkerung Europas – fast 50 Prozent sind unter 30 Jahre alt – erwartet von uns, dass wir das Steuer herumreißen“, sagt sie.
Für die Studenten an der Universität Prishtina, die vor der Bibliothek des Landes herumstehen, ist klar: sie selbst haben kaum eine Chance, jemals einen Job in ihrem Land zu erhalten. „Da musst du Verwandte in der Regierung haben, um überhaupt was verdienen zu können“, sagt einer. Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 70 Prozent die höchste in Europa. Die vorhandenen Jobs würden an die Parteigänger, Verwandte und Nachbarn der Politiker der herrschenden Parteien vergeben, bestätigte kürzlich auch das renommierte „Institute for Middle East and Balkanstudies“ in Ljubljana die Meinung der Studenten.
Alles an sich reißen – nannte man Privatisierung
Für die 19-jährigen Nita und Bekim ist es völlig ungerecht, dass sie als junge Menschen nicht ins Ausland reisen dürfen. „Mein Onkel hat mich nach Frankfurt eingeladen, jetzt muss ich Monate auf ein Visum warten“, sagt Bekim. Dass ausgerechnet die Kosovaren Visa brauchen, Leute aus Moldau, Kolumbien oder Georgien nicht, verbittert die jungen Leute. Sie verstehen nicht, warum sie diskriminiert sind, obwohl viele internationale Organisationen wie die UNO und die EU seit dem Krieg 1999 in Kosovo vor Ort sind.
Mit solchen Konflikten haben die Mitglieder der herrschenden Parteien nicht zu kämpfen, ihre Politiker und Diplomaten sichern sich die Reisefreiheit. Man nimmt die Privilegien ganz selbstverständlich hin. So wie man es als normal empfand, sich als Kämpfer der ehemaligen Befreiungsorganisation UCK im neuen Staat breitzumachen und alles vom Volkseigentum an sich zu reißen, was möglich war. Das nannte man Privatisierung.
Zwar sind manche Führer wie Hashim Thaci und Ramush Haradinaj bei ihren Anhängern, die von ihrer Herrschaft profitieren, bis heute populär, doch deren Parteien, die „Demokratische Partei Kosova“ PDK und die AAK, die „Allianz für den Fortschritt“ des kürzlich zurückgetretenen Premierministers Ramush Haradinaj, haben nicht nur bei den jungen Leuten dramatisch an Renommee eingebüßt.
Immerhin hat sich unter ihrer Herrschaft Kosovo nach außen hin gewandelt. In der Hauptstadt Prishtina wird gewerkelt und gebaut, es sind viele neue Wohnungs- und Geschäftsgebäude entstanden. Die über 300.000 Einwohner zählende Stadt verfügt jetzt über eine regelrechte Skyline. Es gibt wieder Strom und Wasser, die Straßen wurden ausgebaut, die Autobahn von Prishtina zur albanischen Hauptstadt Tirana ist sichtbares Zeichen für die verbesserte Infrastruktur.
Eine politisch-kriminelle Struktur ist entstanden
Auch Kleinstädte und Dörfer sind gegenüber ihrem Zustand vor 20 Jahren nicht wiederzuerkennen. Doch wer bekam die Aufträge für den Bauboom, wer erhielt die Erlaubnis, staatliches Eigentum in Privateigentum umzuwandeln? Wer hat seine Finger in den neu entstandenen und von der Regierung bevorzugten Unternehmen? Präsident Hashim Thaci steht wie die gesamte Führungsriege seiner Partei in dem Geruch, an verschiedenen Firmen direkt und indirekt beteiligt zu sein. Die Institutionen des Staates, vor allem das Justizsystem und die Verwaltung, haben keine Macht, diese Vorgänge zu kontrollieren und Unregelmäßigkeiten einzuschränken. Es sei eine politisch-kriminelle Struktur entstanden, stellt das Institute for Middle East and Balkanstudies aus Ljubljana trocken fest.
Alle gegenüber den internationalen Institutionen gemachten Versprechungen, die Korruption zu bekämpfen, seien im Sande verlaufen. „Wer das ernsthaft will, muss sich zuallererst um die Korruption in den eigenen Reihen kümmern“, heißt es in einer Analyse des Instituts. Diese Aufforderung gilt auch für die jetzt zur Opposition gehörende „Demokratische Liga Kosova“ (LDK), die bei den Wahlen 2017 schon einmal vor der Entscheidung stand, gemeinsam mit der Partei „Selbstbestimmung“ eine neue Regierung zu bilden. Die alte Führung unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Isa Mustafa entschied jedoch damals, mit den alten Mächten zu koalieren, was zu Protesten in der eigenen Wählerschaft führte.
Diese spülten eine kompromisslose und aktive Frau in die Führung der Partei. Obwohl Vjosa Osmani auf der Wahlliste von 2017 nur auf den eigentlich aussichtslosen 82. Platz gesetzt worden war, wurde die Juraprofessorin nach vorne gewählt. Sie bekam die meisten Stimmen aller Kandidaten der Partei, die insgesamt 25 Prozent der Stimmen hinter sich vereinigen konnte. Vor den Wahlen jetzt musste die Altherrenriege nachgeben und Vjosa zur Spitzenkandidatin machen.
Als Parlamentsmitglied tat sich die quirlige Enddreißigerin gegen die Korruption und für die Stärkung des Justizsystems hervor. Wenn sie spricht, springt ihre Energie auf die Zuhörer über. Sie kann Säle zum Kochen bringen. Kein Wunder, dass viele Beobachter glauben, sie könnte die neue Premierministerin Kosovos werden. Vorausgesetzt, die LDK läge vor der Partei „Selbstbestimmung“ und die beiden fänden zueinander.
„400.000 Euro“ gehen am Tag verloren
Beide Parteien sind sich darin einig, als erste Schritte die Staatsanwaltschaften und die Justiz zu stärken. „Es kann doch nicht angehen, dass ein Telefonanruf aus dem Präsidentenbüro das Urteil eines Gerichts beeinflussen kann“, sagt Vjosa Osmani. „Wir verlieren durch die Korruption 400.000 Euro am Tag, wir müssen Übergangsregelungen schaffen.“ Dies sei auch die Voraussetzung dafür, die Kriminalität im Lande ernsthaft zu bekämpfen.
„Der Staat muss die Kontrolle über die Polizei gewinnen“, betonen Vjosa Osmani und Fitore Pacolli von der Partei „Selbstbestimmung“ gleichermaßen. Beide wollen das Erziehungssystem modernisieren, die Universitäten wieder funktionsfähig machen. Beide stimmen darin überein, dass man schrittweise vorgehen muss. „Wir brauchen mindestens zwei Regierungsperioden“, betont Fitore Pacolli.
Stehen wir vor einer Revolution? Frauen-Power? Vjosa Osmani lacht. Es sei keine Revolution im alten Sinne, doch es müsse Leute in den Spitzenpositionen geben, „die saubere Hände haben, die niemals gestohlen haben. Wir sind die jüngste Nation in Europa, wir sollten unsere Möglichkeiten nutzen“, sagt Osmani.
Aber es gibt auch Reibungspunkte zwischen den beiden Parteien. Albin Kurti, der sehr bescheiden lebende und als unbestechlich geltende Chef der Partei „Selbstbestimmung“ will neben dem Erziehungssystem das Sozialsystem erneuern, einen Mindestlohn einführen, die Krankenversicherung funktionsfähig machen, die Mindestrente von jetzt 80 Euro spürbar erhöhen.
Zu viele Reformen will Osmani doch nicht riskieren
Für manche Mitglieder der LDK ist er deswegen ein Kommunist, vor allem, als seine Partei vorschlug, im Gegenzug die Gehälter der Politiker wesentlich zu senken. Die Ministerien sollen verschlankt und die Vizeminister und andere unsinnige Posten abgeschafft werden, darin allerdings stimmt Vjosa Osmani mit Kurti überein.
Zu viele soziale Reformen will sie jedoch nicht riskieren. Denn sie kann sich bei allem Willen zur Erneuerung auf ihre Partei nicht völlig verlassen. Zu viele ihrer Funktionäre haben keineswegs „saubere“ Hände, innerparteiliche Kämpfe stehen bevor. Einige Spannungen mit dem künftigen Koalitionspartner sind also absehbar. Albin Kurti weigert sich zudem, die Flagge Kosovos anzuerkennen, und bevorzugt die albanische Flagge. Will Kurti das unabhängige Kosovo nur reformieren und dann Kosovo mit Albanien vereinigen? Vjosa Osmani stellt demgegenüber klar: „Das unabhängige Kosovo ist eine multinationale Gesellschaft mit definierten Grenzen und eigenen Symbolen.“ Das müsse Kurti akzeptieren. Basta.
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