Von der Leyen an der Spitze der EU: Was sie sagt und was sie kann

EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen hat bei ihrer Bewerbungsrede große Versprechungen gemacht. Kann sie diese erfüllen?

Ursula von der Leyen im EU-Parlament- mit erstauntem Gesichtsausdruck

Muss ohne eigene, proeuropäische Mehrheit auskommen: Ursula von der Leyen Foto: reuters

Sie ist die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission. Und die erste, die ohne eigene, proeuropäische Mehrheit im EU-Parlament auskommen muss: Ursula von der Leyen wird es nicht leicht haben in Brüssel. Ihr Start wird vom Scheitern der Spitzenkandidaten, undurchsichtigen Manövern der Staats- und Regierungschefs und unheiligen Allianzen im Parlament überschattet.

„Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Aber ich wähle Sie jetzt nicht, weil der Spitzenkandidaten-Prozess nicht funktioniert hat.“ Diesen Satz habe sie am häufigsten gehört, erklärte die CDU-Politikerin nach ihrer Zitterwahl am Dienstag in Straßburg. Nach einer leidenschaftlichen Rede reichte es gerade einmal für einer knappen Mehrheit von neun Stimmen.

Die meisten Neinsager dürften aus Deutschland gekommen sein. Linke, Grüne und die SPD, aber auch einige CDU- und CSU-Europaabgeordnete stimmten gegen die erste deutsche Kandidatin seit Walter Hallstein, der vor 50 Jahren die EU-Kommission führte. Laut ZDF-„Politbarometer“ finden es nur 41 Prozent der Deutschen gut, dass von der Leyen diesen Topjob übernimmt.

Von der Leyen wurde mithilfe von Nationalisten aus Polen und Ungarn gewählt. Die polnische Regierungspartei PiS brüstet sich sogar damit, das „Zünglein an der Waage“ gewesen zu sein. Und Ungarns Regierungschef Viktor Orbán behauptet, er habe der Deutschen beim EU-Gipfel zum Durchbruch verholfen. Wird von der Leyen also eine Präsidentin von Orbáns Gnaden?

„Mehrheit ist Mehrheit“, kontert sie. Einen „Green Deal“ hat sie ebenso versprochen wie Mindestlöhne in allen EU-Ländern und die strenge Überwachung des Rechtsstaats und anderer europäischer Grundwerte. Von der Leyen kann als Präsidentin der EU-Kommission nicht allein über EU-Recht entscheiden. Deshalb konnte sie im Vorfeld ihrer Wahl auch keine verbindlichen Zusagen machen. Es hängt nicht nur von ihr ab, ob sie ihre Absichtserklärungen umsetzen kann.

Bei der Gesetzesinitiative hat die EU-Kommission zwar eine zentrale Position. Nur sie darf neue Verordnungen und Richtlinien vorschlagen. Über einen Vorschlag entscheidet die Kommission aber mit Mehrheit. Jeder der 28 Kommissare hat eine Stimme.

Die Kommissionspräsidentin hat keine Richtlinienkompetenz. Ihre Stellung ist damit schwächer als die der deutschen Bundeskanzlerin. Die Richtlinien und Verordnungen werden in der Regel gemeinsam vom Ministerrat (dem Gremium der nationalen Regierungen) und dem Europäischen Parlament beschlossen. Wenn die beiden Gremien sich uneinig sind, gibt es Verhandlungen. Die EU-Kommission sitzt dabei mit am Tisch, aber nur als Moderatorin.

Grundsätzliche Änderungen, etwa die verbindliche Einführung des Spitzenkandidaten-Prinzips, erfordern eine Änderung der EU-Verträge. Die 28 Staaten müssen einstimmig zustimmen, genau wie die nationalen Parlamente. In manchen Staaten können zusätzlich Volksabstimmungen erforderlich sein. Die EU-Kommission darf hier nur ihre Meinung äußern.

***

Rechtsstaat

Was verspricht von der Leyen?

Die EU-Kommissionen soll einen jährlichen Bericht „zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit“ vorlegen. Dieses Monitoring soll nicht nur für Pro­blem­staaten wie Polen und Ungarn gelten, sondern „für alle Mitgliedstaaten einheitlich sein“, heißt es in von der Leyens Agenda. Die Koppelung von EU-Mitteln an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit vertritt sie nur zögerlich. „Das wäre das allerallerletzte Mittel nach vielen Stufen, die vorher kommen“, sagte sie der Süddeutschen Zeitung.

Ist das realistisch?

Einen „jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten“ hat die EU-Kommission (in alter Besetzung) nach längerem Vorlauf bereits am Mittwoch beschlossen. Für derartige Berichte braucht die EU-Kommission nicht die Zustimmung von Rat und Parlament. Von der Leyen kündigte nur an, was ohnehin kommt.

Schon im Mai 2018 hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die Auszahlung von EU-Mitteln an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu koppeln. Diese Verordnung müssten Rat und Parlament beschließen. Die Verhandlungen stehen noch am Anfang. Von der Leyen will sie offensichtlich nicht beschleunigen. Christian Rath

***

Migration

Was verspricht von der Leyen?

Einen neuen „Pakt für Migration und Asyl“ will sie vorschlagen, einschließlich einer Reform der Dublin-Regeln für Asylverfahren. In der Bild-Zeitung legte sie am Freitag nach: „Ich habe nie wirklich verstanden, warum Dublin mit der einfachen Gleichung begann: Wo ein Migrant zuerst europäischen Boden betritt, muss er oder sie bleiben.“

Ist das realistisch?

Die Mitgliedstaaten scheitern schon seit Jahren daran, sich dazu zu einigen und etwa einen EU-weiten Schlüssel zur Lastenverteilung einzuführen. „Die Debatte um Dublin ist wahnsinnig verfahren, weil sie so verknüpft ist mit der Verantwortungsteilung“, sagt Anne Koch von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Dass von der Leyen zumindest rhetorisch eingegangen sei auf Solidarität und Verantwortungsteilung, zeige, dass die CDU-Politikerin richtig einschätze, wo die Arbeit zu tun sei. „Die Vorschläge, die gibt es bereits“, so Koch. Die Schwierigkeit liege im Erarbeiten politischer Mehrheiten.

Zumindest eine konkrete Maßnahme hat von der Leyen aber vorschlagen: Die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll schon bis 2024 statt 2027 um 10.000 Menschen wachsen. Eva Oer

***

Wirtschaft

Was verspricht von der Leyen?

Ein Mindestlohn für alle EU-Länder und eine Arbeitslosen-Rückversicherung für die nächste Krise. Fast klingt es so, als habe Von der Leyen ihr Wirtschaftsprogramm bei der SPD abgeschrieben. Auch der Ausbau der „sozialen Säule“ und der Aufbau einer neuartigen „Garantie“ gegen Kinderarmut klingen viel versprechend.

Ist das realistisch?

Von der Leyen geht nicht ins Detail, nennt keine Zahlen, sagt nichts zur Finanzierung.

Nehmen wir den Mindestlohn: Den soll nicht die EU-Kommission festlegen, sondern die Mitgliedstaaten. Für die Höhe sollen die „Sozialpartner“ verantwortlich sein. Doch das ist unrealistisch. In manchen Ländern – etwa Frankreich – wird der „SMIC“ von der Regierung festgelegt. In anderen – vor allem in Südosteuropa – sind die Gewerkschaften zu schwach, um höhere Löhne durchzusetzen.

Noch schlechter steht es um die Arbeitslosenkasse. Bisher konnte sich nicht einmal Kanzlerin Angela Merkel für die Idee einer Rückversicherung erwärmen.

Im Rat, der Vertretung der 28 EU-Länder, zeichnet sich dafür keine Mehrheit ab. Von der Leyen verspricht Dinge, die sie kaum beeinflussen kann. Eric Bonse

***

Green Deal

Was verspricht von der Leyen?

Binnen 100 Tagen soll ein Gesetz mit dem Ziel entstehen, Europa bis 2050 zum „ersten klimaneutralen Kontinent“ zu machen. Schon bis 2030 sollen 55 Prozent weniger Treib­haus­gase emittiert werden, bislang sind lediglich 40 Prozent weniger als 1990 geplant. Dazu soll der Emmis­sions­handel vom Industriesektor auf den Bau, den See- und Straßenverkehr ausgeweitet werden. Eine CO2-Grenzsteuer soll verhindern, dass Firmen, die klimaschädigend – und billig – produzieren, Europa mit ihren Produkten fluten.

Ist das realistisch?

Klimaneutralität bis 2050? Dafür gibt es keine Mehrheit in Europa. Noch beim EU-Gipfel im Juni waren Polen, Tschechien und Ungarn dagegen. Auch andere Ankündigungen in von der Leyens „Green Deal“ sind erst mal Klima-PR. Experten rätseln, wie Europa eine CO2-Grenzsteuer einführen soll, ohne einen Handelskrieg mit dem Rest der Welt anzuzetteln. Immerhin: Von der Leyens Plan, eine Europäische Klimabank zu installieren, ist eine Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Ähnliches gibt es bereits: Die Europäische Investitionsbank gilt als weltweit größter multilateraler Geldgeber für Klimaprojektfinanzierungen. Kai Schöneberg

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

***

Digitales

Was verspricht von der Leyen?

Investitionen in 5G und die Entwicklung europäischer Standards, dazu ein bisschen Disruption und die Ethik künstlicher Intelligenz. Als vorbildhaft für Europa sieht sie die Datenschutz-Grundverordnung (DSVGO). Außerdem will sie die Regulierung der großen Internetplattformen vorantreiben.

Ist das realistisch?

Ein Gesetz für Plattformen ist auf euro­päischer Ebene bereits in Arbeit. In dieser Woche leakte netzpolitik.org ein vertrauliches Arbeitspapier der Kommission. Der Prozess ist noch im Anfangsstadium, Ergebnisse in dieser Legislatur sind aber möglich. Die Komplexität der Materie lässt dabei viel Raum, um zu ähnlich umstrittenen Regelungen zu kommen, wie in der erst jüngst verabschiedeten Urheberrechtsreform.

Die Entwicklung der 5G-Technologie wird auf weniger Widerstand stoßen. Eine Datenschutzreform ist sicher überfällig, angesichts der außerordentlich holprigen Operationalisierung der DSVGO, gerade in Deutschland, darf man hier jedoch keinen Goldstandard erwarten.

Inwieweit von der Leyen ihren Einfluss für die Entwicklung militärisch nutzbarer Technologien nutzen wird, ist noch nicht klar. Daniél Kretschmar

Korrekturhinweis: In einer früheren Version dieses Beitrags war die DSVGO als deutsches Gesetzt zugeordnet.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.