Kommentar Netanjahu-Proteste: Angst vor Erdoğanisierung
Israels Opposition ist aus der Schockstarre erwacht. Sie protestiert gegen die Aushöhlung der Demokratie und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden.
V or dem Tel Aviver Museum fand die Protestveranstaltung gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu statt und nicht wie sonst üblich vor dem Rathaus, denn die Veranstalter fürchteten, den großen Platz nicht füllen zu können. Am Ende kamen aber doch Zigtausende. Kaum zwei Monate nach den Parlamentswahlen löste sich die Opposition aus der Schockstarre, in die sie über die Perspektive einer fünften Amtszeit Netanjahus und ihren Folgen gefallen war.
Korruptionsvorwürfe gegen einen Regierungschef sind in Israel nichts Neues. Ex-Ministerpräsident Ehud Olmert musste für Jahre hinter Gitter, weil ihn die Gier bestechlich werden ließ, und er war längst nicht der einzige korrupte Politiker. Den Anstoß für die Massenproteste am Samstag gab nicht der Verdacht gegen Netanjahu sondern erst sein feiger Versuch, den Kopf auf Kosten der Gewaltenteilung per Gesetzesreform aus der Schlinge zu ziehen.
Es war die Skrupellosigkeit des noch amtierenden Regierungschefs, die die Massen mobilisierte. Netanjahus stetes Untergraben der Grundpfeiler der Demokratie – „der einzigen im Nahen Osten“, wie er gern selbst betont – ist Grund zur Sorge. Viele der Demonstranten trugen einen Fes, eine in der Türkei übliche Kopfbedeckung, und zogen damit den Vergleich zum türkischen Präsidenten. „Erdoğan ist hier“, hieß es auf einem Schild.
Noch nicht ganz. Noch riskiert kein Regierungskritiker Gefängnis. Noch sind kontroverse Debatten möglich, wobei die aus Führungskreisen lancierte Hexenjagd Andersdenkender schon jetzt ins gesellschaftliche Abseits drängt. Bedrohlich ist, dass die Mehrheit bei diesem politischen Mobbing mitmacht oder es wenigstens aushält und zuschaut, ohne etwas dagegen zu unternehmen.
Viel zu lange schon hat die Opposition das Feld denen überlassen, die die Demokratie ihrer politischen Agenda anpassen wollen. Der breite Protest lässt nun hoffen, dass die Lager, die für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit stehen, ihre Kräfte vereinen und sich denen entgegenstellen, die von türkischen Verhältnissen träumen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin