Einschläfern oder nicht?: Hundeschicksal mobilisiert Massen

Die Stadt Hannover prüft, ob der Hund, der seine Halter tot gebissen hat, eingeschläfert werden soll. 250.000 Menschen fordern per Online-Petition, den Hund leben zu lassen.

Ein Hund hinter Gittern.

Aus Sicherheitsgründen füttern die Tierheimmitarbeiter Chico nur durchs Gitter Foto: dpa

HANNOVER taz | Wenn „Chico“ sein Futter bekommt, ist immer ein Gitter zwischen dem Staffordshire-Mischling und den Tierpflegern aus dem Tierheim Hannover. Der achtjährige Hund, der am vergangenen Dienstag seine beiden Besitzer tot gebissen hat, verhalte sich in seiner Box „ruhig und unauffällig“, sagt Tierheimmitarbeiter Arvid Possekel. Dennoch habe „der Schutz der Mitarbeiter oberste Priorität“. Denn einschätzen könne man das Verhalten des Tiers noch nicht: „Er befindet sich noch immer in einer Ausnahmesituation“, sagt Possekel.

Feuerwehrleute hatten den Hund in der Wohnung im Stadtteil Roderbruch eingefangen, nachdem die Schwester des 27-jährigen Halters ihren leblosen Bruder durch das Balkonfenster entdeckt hatte. Die alarmierte Polizei fand dann auch ihre ebenfalls tot gebissene 52-jährige Mutter.

Die Stadt Hannover räumte gestern bei einer Pressekonferenz „ein gravierendes Versäumnis“ ein. Denn schon im Jahr 2011 hatte die Veterinärbehörde deutliche Hinweise darauf, dass der Hund aggressiv war und der Sohn nicht die erforderliche Eignung besaß, um einen solchen Hund zu halten. Das Amtsgericht hatte der Behörde ein psychologisches Gutachten über den Sohn, die Einschätzung einer Tiertrainerin über den Hund und einen Bericht der gesetzlichen Betreuerin der beiden Familienmitglieder geschickt.

Der Halter sollte daraufhin mit seinem Hund bei der Veterinärbehörde vorstellig werden, kam aber nicht. Die Veterinäre meinten, Chico auch in Abwesenheit eine gesteigerte Aggressivität attestieren zu können – nur danach passierte nichts mehr.

Das sei „kaum erklärlich“, sagt Stadtrat Axel von der Ohe. Aus heutiger Sicht wäre dem Sohn mit Sicherheit das Halten des Hundes untersagt und ihm dieser entzogen worden. Nun würden arbeitsrechtliche Schritte gegen die verantwortlichen Mitarbeiter geprüft. „Über diesen Fall hinaus haben wir keinerlei Hinweise darauf, dass es vergleichbare Fälle in der Veterinärbehörde gibt“, sagt von der Ohe. Trotzdem prüfe die Stadt nun Altfälle.

In Niedersachsen sind laut dem Landwirtschaftsministerium 348.504 Hunde gemeldet. 460 davon gelten als gefährlich. Die meisten sind Mischlinge. Auf Platz 2 stehen Schäferhunde.

Pauschale Rasse-Listen hat das Land 2003 abgeschafft, weil es keine wissenschaftlichen Beweise für die Gefährlichkeit bestimmter Rassen gibt.

Stattdessen muss seit 2011 jeder neue Halter einen Sachkundenachweis erbringen. Dieser wird auch Hundeführerschein genannt.

Für die Halter von Chico galt das nicht, da sie den Hund schon vor der Gesetzesnovelle angeschafft hatten.

Hinweise darauf, dass die 52-Jährige, die im Rollstuhl saß, und ihr schwer kranker Sohn mit dem Rüden überfordert sein könnten, hatte auch der Tierschutzverein Hannover. Mitarbeiter begutachteten das Tier 2014 und 2016, nachdem Nachbarn ihnen Hinweise darauf gegeben hatten, dass der Hund vernachlässigt werde. Ein Rentnerpaar hatte gemeldet, dass Chico offenbar in einem Zimmer eingesperrt sei, ständig belle und auf dem Balkon sein Geschäft mache.

Zumindest letzteres belegen auch Fotos des Tierschutzvereins. „Aus heutiger Sicht hätten wir anders entscheiden müssen“, sagt Heiko Schwarzfeld, der Geschäftsführer des Tierschutzvereins. „Ich mache mir Vorwürfe.“ Denn der Verein informierte die Veterinärbehörde nicht.

Die Zustände in der Wohnung seien bei der Begutachtung nicht ideal gewesen, aber auch nicht desolat. „Wenn Besuch kam, wurde der Hund in einen Zwinger gesperrt“, sagt Schwarzfeld. Der Hund habe zwar gebellt, dass er so gefährlich sei, habe man jedoch nicht feststellen können.

Zudem habe es keine Anzeichen auf Misshandlungen gegeben, sagt sein Kollege Possekel. Die Halter seien „zwei nette Menschen“ gewesen, die „sorgfältig mit ihrem Hund umgegangen“ seien, sagt Possekel. Mutter und Sohn sei bewusst gewesen, dass ihr Hund gefährlich sei. Sie seien deshalb nur mit ihm spazieren gegangen, wenn er Maulkorb und Schleppleine getragen habe. „Sie haben ihn nicht einfach auf die Gesellschaft losgelassen.“

Eine Woche nach der Attacke stellt sich nun die Frage, was mit dem Hund passiert. Die Stadt hatte zunächst angekündigt, den Staffordshire-Mischling einschläfern zu wollen. Nun prüft sie den Vorschlag des Tierschutzvereins, Chico in eine Einrichtung außerhalb Niedersachsen zu geben, deren Mitarbeiter für den Umgang mit gefährlichen Hunden geschult seien.

Die Stadt ist noch zurückhaltend

„Der Hund ist acht Jahre alt. Man wird ihn nie wieder in einen privaten Haushalt vermitteln können“, sagt Schwarzfeld. Doch eine spezialisierte Einrichtung sei eine Alternative zur Tötung. „Warum sollten wir diese nicht wahrnehmen?“, fragt Schwarzfeld.

Die Stadt ist noch zurückhaltend: „Für uns besteht die oberste Priorität darin, eine Gefährdung Dritter durch den Hund auszuschließen“, sagt von der Ohe. Gleichzeitig habe er großen Respekt für die Menschen, die sich Sorgen um das Wohl des Hundes machten. Fast 250.000 Menschen haben die Online-Petition „Lasst Chico leben!“ bereits unterschrieben.

Die Unterstützer sehen die Schuld für die Attacke nicht bei dem Hund, sondern bei den Haltern. „Das klingt grausam, weil jetzt zwei Menschen tot sind. Aber nicht sachgerecht wäre es, die offenbar falsche Haltung des Hundes zu ignorieren“, heißt es in der Petition. Es gebe hunderte von Menschen, die Chico helfen würden, auch finanziell.

Die geballte Mobilisierung der Tierschützer und deren Gegner im Netz hat auch der Tierschutzverein abbekommen. „Allein bis Samstag mussten wir auf Facebook schon 150 ordinäre Kommentare löschen“, sagt Schwarzfeld. Ein Nutzer habe 3.000 Euro für denjenigen geboten, der Chico abknalle. Unbekannte hatten in der Nacht zu Samstag zudem versucht, ins Tierheim einzubrechen. Ob ein Zusammenhang mit der Unterbringung Chicos besteht, ist allerdings unklar.

Schwarzfeld kritisiert aber auch die Tierschützer. „Die Leute, die jetzt hier wegen des Hundes schreien, sollten auch an die Opfer denken.“

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