IG Metaller für Arbeitszeitverkürzung: Die Avantgarde trägt Blaumann
Die Siemensmitarbeiter sind im Warnstreik. Sie kämpfen für kürzere Arbeitszeiten. Eine revolutionäre Forderung in einer auf Effizienz gepolten Gesellschaft.
Arbeitskämpfe, das sind auch sich Jahr für Jahr wiederholende Rituale, bei denen es, oberflächlich betrachtet, um die berühmten Zehntelprozente hinter dem Komma geht. Arbeitskämpfe, das sind wehende Gewerkschaftsfahnen, Männer im Blaumann, die Trillerpfeife im Mund. Eine Welt von gestern, so erscheint es so manchem Anzugträger in den schicken Büros mit der Glasfassade.
An diesem diesigen Dienstagmorgen im Januar aber treibt es Hunderte Frauen und Männer auf die Straße. Viele tragen Helme auf dem Kopf. Manche haben die orangefarbenen Westen ihrer Gewerkschaft übergezogen, mit der Aufschrift „Warnstreik“. Der Stadtteil, in dem die Kundgebung abgehalten wird, trägt den Namen des Werks, um das es hier geht: Siemensstadt.
Ja, kennen wir, mag da mancher denken, das Übliche. Und doch ist es so, dass die Siemens-Beschäftigten an diesem Morgen eine Avantgarde für etwas bilden, das in den letzten Jahrzehnten fast in Vergessenheit zu geraten drohte. Es geht hier auch um mehr Lohn, um Beschäftigungsgarantieren, um ein ganzes Werk, das schließen soll.
Aber eben auch: um weniger Arbeit. Eine revolutionäre Forderung, und eine, die nicht nur die Metaller etwas angeht, sondern diese ganze, auf pure Effizienz gepolte Gesellschaft.
Arbeitszeit, das ist ein Thema, das für die Gewerkschaft mit großen Erfolgen, aber auch einem Trauma verbunden ist. Jetzt aber sei die Zeit wieder reif dafür, haben sie entschieden.
Zeit haben, wenn Angehörige Pflege bedürfen
„Passendere Arbeitszeiten sind gerade für junge Beschäftigte attraktiv, die eine Familie gründen wollen“, sagt Marie Beckmann, seit sechs Jahren Konstrukteurin im Berliner Siemens-Dynamowerk, die sich der Demonstration angeschlossen hat. „Wenn ich Kinder hätte, würde ich die Reduzierung in Anspruch nehmen.“ Marie Beckmann ist mit einem dicken Schal und einer Strickmütze zur Kundgebung gekommen, darüber trägt sie jetzt einen weißen Arbeitshelm.
Die Reduzierung, sagt sie, sei aber auch für andere ein gutes Modell. „Wer kleine Kinder hat, kann in Elternzeit gehen.“ Für Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen gebe es solche gesetzliche Regelungen nicht. „Die würden von unserem Tarifvertrag richtig profitieren.“ Das gelte auch für Beschäftigte, die aus gesundheitlichen Gründen kürzertreten wollen, oder für solche, die berufsbegleitend studieren möchten.
83 Prozent der IG-Metall-Mitglieder haben sich für zeitweilige Verkürzungen der Arbeitszeit ausgesprochen. Dabei klingen die Gewerkschaftsforderungen eher bescheiden – jedenfalls im Vergleich zum Kampf um die Abschaffung der 6-Tage-Woche in den 1950er Jahren und zu dem für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich in den 1980er Jahren. Die Metaller verlangen einen tarifvertraglich gesicherten Anspruch der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, ihre wöchentliche Arbeitszeit für zwei Jahre auf 28 Stunden zu verkürzen, wenn sie das denn möchten. Die Gewerkschaft nennt das „verkürzte Vollzeit“.
Der Clou dabei: Die Betroffenen sollen das Recht erhalten, im Anschluss wieder in Vollzeit zu arbeiten, damit sie nicht dauerhaft weniger verdienen. Wer aber die Regelung in Anspruch nimmt, soll in den zwei Jahren entsprechend weniger verdienen – aber für besondere Gruppen will die IG Metall diesen Lohnverlust durch zusätzliche Zahlungen abfedern. Beschäftigte mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen sollen einen Lohnzuschuss von 200 Euro pro Monat bekommen, Schichtarbeiter einen Zuschuss von 750 Euro pro Jahr erhalten.
Für Arbeitszeiten, die besser zum Leben passen
Die Arbeitgeber sind, wie es bei Tarifverhandlungen so üblich ist, entsetzt und lehnen diese Forderungen rundweg ab. Aber sie wissen auch: Die IG Metall ist verflucht stark.
Bei den Beschäftigten aber trifft die IG Metall mit ihren Forderungen einen Nerv; das ist in jedem Augenblick in Berlin-Siemensstadt zu spüren. Nicht nur die Funktionäre, auch die Streikenden nennen in einem Atemzug ihre drei Anliegen, für die sie auf der Straße stehen: Erhalt der Arbeitsplätze, mehr Lohn, bessere Arbeitszeiten.
Einer von ihnen ist Frederik Groß, seit sechs Jahren Laborfachkraft bei Bosch-Siemens-Hausgeräte (BSH). „Ich kämpfe selbstverständlich für Arbeitszeiten, die besser zum Leben passen“, sagt er. Die vorübergehende Arbeitszeitreduzierung wird der Vater zweier Kleinkinder aber vermutlich nicht in Anspruch nehmen. „Wir brauchen das Geld, das ich in Vollzeit verdiene.“ Die Miete sei ein gehöriger Posten im Haushaltsbudget. Groß denkt aber auch global: Streikrecht und Tarifverhandlungen auf Augenhöhe seien international gesehen keine Selbstverständlichkeit. „Wir müssen beides stärken, indem wir es nutzen.“
Es ist nicht so, dass nur die Arbeitszeitverkürzung die Metaller auf die Straße getrieben hat. In Siemensstadt geht es auch um den eigenen Job, um Existenzsorgen. Denn der in Berlin gegründete Weltkonzern, der im vergangenen Jahr mehr als 6 Milliarden Euro Gewinn machte, will das Berliner Dynamowerk schleifen. Dieses Vorhaben heizt den bundesweiten Tarifkonflikt zusätzlich an. „Wir werden das Dynamowerk erhalten“, verspricht IG-Metall-Funktionär Klaus Abel bei der Warnstreikkundgebung vor der Siemens-Zentrale. Für diese Zuversicht erntet er Trommelwirbel, Applaus und Gejohle.
Der nächste Schritt: 24-Stunden-Streiks
Täglich finden derzeit bundesweit Warnstreiks statt, weil die Arbeitgeber bislang gerade mal einen Inflationsausgleich anbieten und eine Verlängerung der Arbeitszeiten verlangen, statt eine Verkürzung vorzusehen. In ein paar Tagen, am 24. Januar, kommt es zur vierten und vorentscheidenden Verhandlungsrunde im wichtigen Tarifbezirk Baden-Württemberg „Ich habe die Hoffnung, dass sich bis dahin noch einiges tut“, verbreitet IG-Metall-Chef Jörg Hofmann Optimismus.
Gelingt dort kein Durchbruch, wird die Gewerkschaft die nächste Eskalationsstufe einleiten. Sie könnte eine Urabstimmung über Flächenstreiks durchführen; wahrscheinlicher aber ist, dass sie zu ganztägigen Warnstreiks aufrufen wird. Solche 24-Stunden-Streiks könnten bei relativ geringem Aufwand eine hohe Wirkung erzielen, weil sie die Welt der Waren- und Logistikketten der Unternehmen durcheinanderbringen. Angesichts prall gefüllter Auftragsbücher träfe dies die Unternehmen hart.
Viele Kolleginnen und Kollegen unterstützen die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, auch wenn sie sie selbst nicht in Anspruch nehmen wollen. „Irgendwann im Leben kann das jeder brauchen“, heißt es. Um einen möglicherweise länger andauernden Tarifkonflikt durchstehen zu können, ist die IG Metall auf Rücklagen angewiesen. „Unsere Streikkasse ist gut gefüllt“, ist Vorstandsmitglied Jürgen Kerner optimistisch. Die Einnahmen seien letztes Jahr um 2,5 Prozent auf 561 Millionen Euro gestiegen, neue Rückstellungen in Höhe von 84 Millionen Euro seien gebildet worden. Die Mitgliederzahl blieb mit 2,26 Millionen stabil.
Das ist wichtig: Denn im Falle eines Streiks bekommen die Beschäftigten für die Zeit ihres Ausstands keinen Lohn, und die Gewerkschaft gleicht einen Großteil des Verdienstausfalls aus.
„Klar würde ich streiken“
Wenn es zum Streik kommt, dann ist Frank Schüler auf jeden Fall mit dabei. Seit 25 Jahren arbeitet er bei Siemens, derzeit ist er im Dreischichtbetrieb als Lagerist im Messgerätewerk. „Na klar würde ich auch für die Möglichkeit zur Arbeitszeitreduzierung streiken“, sagt er. Seine Eltern seien schon älter und irgendwann vielleicht einmal pflegebedürftig. „Dann brauche ich mehr Zeit für sie.“ Wichtig sei aber auch, wieder in Vollzeit zurückkehren zu können, damit das Geld reicht.
Schüler ist fasziniert von Modellprojekten in Schweden. „Die arbeiten bei vollem Lohnausgleich nur noch sechs Stunden am Tag.“ Und dabei steige gleichzeitig die Produktivität in den beteiligten Betrieben oder Verwaltungen.
Wie gut die IG Metall aufgestellt ist, lässt sich auf der Berliner Kundgebung an Kleinigkeiten ablesen. Die Veranstaltung beginnt auf die Minute genau und verläuft reibungslos, und in Windeseile wird eine Attrappe des Siemens-Chefs Joe Kaeser auf- und am Ende wieder abgebaut.
Marie Becker, die Konstrukteurin, ist zufrieden – auch wenn ihre eigene berufliche Zukunft bei Siemens ungewiss ist. „Wenn wir unser Arbeitszeitmodell durchsetzen, hilft das auch den Menschen in anderen Branchen. Die können das ebenfalls gebrauchen.“
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