Schulz-Wahlkampf in Ostdeutschland: Keine einfachen Stimmen

Der Kanzlerkandidat ist bemüht. Doch auch noch so forsche Schulz-Auftritte holen die SPD nicht aus ihrem ostdeutschen Jammertal.

Ein Mann steht auf einem Podest und spricht in ein Mikrofon.

Hier beim Stopp in Erfurt: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz Foto: dpa

DÖBELN/LEIPZIG taz | Im Volks­haus der mittelsächsischen Klein­stadt Döbeln steht der sichtlich abgenutzte große Küchentisch der achtköpfigen Familie Dulig. „Am Küchentisch finden die besten Gespräche statt“, flachst der 43-jährige sächsische SPD-Landesvorsitzende Martin Dulig seit dem Landtagswahlkampf 2014. Die Küchentischtour bleibt auch in diesem Bundestagswahlkampf ein probates Mittel, die SPD als die Kümmererpartei Ost zu präsentieren. Der Abend läuft nach dem Fishbowl-Prinzip. Zu den Genossen Abgeordneten und Ministern am Tisch setzten sich spontan die Bürger mit ihren Anliegen.

Der Versuch, ein neues Image als Kümmererpartei insbesondere bei den Ostdeutschen zu gewinnen, ist älter als dieser Bundestagswahlkampf. Mit Pegida stiegen Exponenten wie die sächsische Wissenschafts- und Kunstministerin Eva-Maria Stange massiv in den Bürgerdialog ein. Ihre für Gleichstellung und Integration zuständige Kabinettskollegin Petra Köpping hörte vielen Schicksalsberichten zu und entdeckte die Nachwendeverletzungen der sensi­blen DDR-Seele neu. Das sind nicht nur gefühlte Brüche und zerstörte Lebensentwürfe, sondern auch finanziell messbare Auswirkungen der lückenhaften und gedankenlosen Rentenüberleitung.

Martin Schulz sprang bei seinem Leipziger Auftritt am Dienstag voll darauf an. „Viele haben auch gelitten, und viele sind nicht fair behandelt worden. Und auch drei Jahrzehnte nach der Wende haben diese Menschen zum Teil noch immer keine Wiedergutmachung er­fahren für ­erlittenes Unrecht“, rief er den etwa 600 Leipzigern zu. Freilich erst, nachdem ihm die ostdeutschen Landesverbände ­heftig zugesetzt und durchgedrückt hatten, dass ein symbolischer Entschädigungsfonds ins SPD-Wahl­programm kommt.

Linksparteiler wie der sächsische Landesvorsitzende Rico Gebhardt fühlen sich düpiert, weil auf ihrem angestammten Themenacker Sozis zu ernten versuchen. Ein weiterer Konkurrent auf diesem Feld ist die AfD, die mit vielen kleinen Lokalforen Terrain zu gewinnen sucht. So einfach sind Stimmen also nicht mit Ossi-Empathie zu gewinnen.

Das Hauptproblem der meisten ostdeutschen Landesverbände ähnelt im Grunde der SPD im Bund. Nur im Norden, in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin, stellt sie trotz Wahlverlusten noch die Ministerpräsidenten. Im mitteldeutschen Raum befindet sie sich seit den 1990ern in der Defensive, in Sachsen geradezu in der Diaspora. Sachsen-SPD-Chef und Wirtschaftsminister Dulig wiegt nachdenklich den Kopf, als dieser Begriff fällt. Er kann gar nicht recht verstehen, dass ein klares Kontrastprogramm und ein leidenschaftlicher Kanzlerkandidat so wenig ziehen sollten. „Schulz ist der Erste, der sich Merkel ernsthaft vorknöpft“, meint er. Das Gefühl, wie Merkel den Sprint von der Spitze anziehen zu können, kennt man in der Ost-SPD kaum noch.

Schröder im Nacken

Mit einer weiteren Erblast hat sich die SPD im viel stärker von Arbeitslosigkeit betroffenen Osten besonders herumzuschlagen. Unter den Schulz-Zuhörern haben viele die Agenda 2010 und die daraus resultierenden Hartz-Gesetze von 2004 nicht vergessen. Ex-Kanzler Gerhard Schröder verschafft seiner SPD aber nicht nur in dieser Hinsicht ein nachträgliches Glaubwürdigkeitsproblem. Als exemplarischer „Genosse der Bosse“, als Autokanzler fällt er den Schulz-Attacken auf die Autolobby unsichtbar in den Rücken. Mit seinen Russland-Eskapaden sowieso.

Unter den Schulz-Zuhörern haben viele die Agenda 2010 nicht vergessen

Dies ist aber ein Thema, bei dem die Ost-SPD-Verbände gegenüber der Bundespartei ein eigenes Profil zeigen und möglicherweise Ossi-Stimmen holen können. Ohne gleich als Putin-Versteher erscheinen zu wollen, zweifelt Dulig etwa die Berechtigung des harten Kurses gegenüber Russland und der Sank­tionen an. Ähnliches gilt für die skeptische Einstellung mancher Ost-Genossen zu den Auslands­einsätzen der Bundeswehr.

Wenn Martin Schulz als Kanzler direkt gewählt werden könnte, bekäme er gewiss ein paar Prozent mehr als die SPD-Zweitstimmen. So war es auch in Leipzig zu hören. Aber da niemand den Sozialdemokraten zutraut, stärkste Kraft und damit Kanzlerpartei im Bundestag zu werden, geben links Fühlende ihre Stimme eher dem Linken-Original im Osten. Für ein rot-rot-grünes Lager wäre das immerhin keine verlorene Stimme, denken manche.

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